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"IM GROSSEN PLAN DER GESCHICHTE..."
Das Schweizbild im kommunistischen Bulgarien Wenzeslav Konstantinov Das nachahmenswerte Vorbild Das bulgarische Schweizbild wurde bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts geprдgt. In der in Zarigrad, d.i. Konstantinopel, erschienenen Zeitschrift "Blygarski knishizi" (Bulgarische Blдtter) aus dem Jahre 1858 findet man einen Aufsatz ьber die schweizerischen Kдsereien, in dem eine abgeschlossene Vorstellung vom Lande und seinen Bewohnern vorhanden ist. Der anonyme Autor bemerkt gerade das, was ihm fьr das eigene Land wichtig und nachahmungswьrdig erscheint. Der schweizerische Bauer sei "дuЯerst fleiЯig", seine "groЯen Mьhen" blieben jedoch nicht ohne Entlohnung, denn durch seine Anstrengungen wьrden "unfruchtbare Цden fruchtbringend gemacht", und "von seiner Kunst verwandelt", sei die Milch "zu einem Handels- und Austauschmittel sowie zu einer Quelle des Reichtums und der Behaglichkeit" geworden. AufschluЯreich fьr die Untersuchung des bulgarischen Schweizbildes von heute ist folgende Bemerkung: die politische Ordnung mache die Schweiz zu einem "freien Land mitten im monarchistischen Europa"1. In dieser Einschдtzung spiegelt sich die Sehnsucht der damals unter osmanischer Fremdherrschaft lebenden Bulgaren nach einem freien Vaterland mit demokratischer Staatsordnung nach schweizerischem Vorbild wider. In einem 15 Jahre spдter in der Zeitschrift "Tschitalischte" (Die Lesehalle) verцffentlichten Aufsatz ьber die Schweiz und ihr Volk werden die Eigentьmlichkeiten der Eidgenossen charakterisiert: "Die дuЯere Ansicht der Schweizer lдЯt die Prдgung durch die Natur erkennen. Die Hauptmerkmale sind: ein krдftiger Kцrper und sehnige Glieder, die durch die stдndige natьrliche Ьbung auf unebenen Gelдnden gebildet wurden, eine durch das tiefe Einatmen von reiner Luft wohlgeformte vorspringende Brust sowie eine robuste Gesundheit, die durch die Gewцhnung an den jдhen Wechseln von Kдlte zu Wдrme und von Trockenheit zu Nдsse gestдrkt worden ist. Die hьbschesten Mдnner der Schweiz leben im Haslital, und unter den Weibern sind die Baslerinnen am schцnsten." Der wiederum anonyme bulgarische Autor schildert auch die inneren Eigenschaften der Alpenbewohner: "Die seelische Beschaffenheit der Schweizer zeigt gleichfalls die Prдgung durch die wunderschцne, jedoch auch fьrchterliche Natur. Die Schweizer sind fromm, denn sie werden von den Naturmдchten stьndlich an das hцchste Wesen erinnert; dies mag auch ein Grund dafьr sein, daЯ ihre Kцpfe voll von Aberglauben sind, die den schlichten Gebirgler meinen lassen, in jedem See, in jedem FluЯ und in der Luft lebten Fabelwesen, die ьber die Naturerscheinungen herrschten. Die Tapferkeit und der Heldenmut des Schweizers sind auf seinen stдndigen Kampf mit dem mдchtigen Gegner zurьckzufьhren, der Natur, mit ihren Gewittern und Donnern, stьrzenden Felsen, Schnee und Eis sowie mit den ьber die Ufer tretenden Flьssen. Indem der Schweizer in diesem Kampf oft unterliegen muЯ, lernt er die Leiden der Mitmenschen verstehen und wird dadurch mitleidsfдhig. Er fьhlt mit seinem Nдchsten, ist auch menschen- und gastfreundlich."2 Wichtig fьr unsere Untersuchung ist wiederum eine Bemerkung zur politischen Geschichte der Eidgenossenschaft: "Die Vierwaldstдtter Alpen sind fьr die Schweizer nicht so sehr wegen der Naturschцnheiten, sondern viel mehr wegen der historischen Denkwьrdigkeiten von Bedeutung. Auf Schritt und Tritt wird man hier an Ereignisse aus dem heldenmьtigen Kampf der Schweizer gegen die цsterreichischen Unterdrьcker erinnert."3 Diese Zeilen wurden im Jahre 1873 geschrieben; es war die Zeit der nationalen Erhebung, der sogenannten "Bulgarischen Wiedergeburt". Im selben Jahr wurde der Diakon Wassil Lewski von den Tьrken gehдngt; er hatte den dann 1876 ausbrechenden Aprilaufstand jedoch schon vorbereiten kцnnen, der zwei Jahre darauf zur Befreiung Bulgariens von den osmanischen Unterdrьckern im Russisch-Tьrkischen Krieg fьhren sollte.
Das Idyll als politisches Gegenbild Die fruchtbare bulgarische Begeisterung ьber den FleiЯ, die Tapferkeit und den Heldenmut der Schweizer, ьber ihre Freiheitsliebe und vorbildliche Gesellschaftsordnung sowie ьber ihre technischen und kulturellen Errungenschaften sollte viele Jahrzehnte lang, allerdings nur bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestehen bleiben. Am 8. September 1944 drangen Truppen der Roten Armee in Bulgarien ein. Unter deren Schutz nahmen Partisanen die Hauptstadt ein und bildeten sofort eine sogenannte "Regierung der Vaterlдndischen Front", in der die Kommunisten zunдchst zwei Jahre lang nur eine Minderheit darstellten. Um ihre Macht zu festigen, entfachten sie einen "roten Terror" nach bolschewistischem Vorbild. Verhaftet und grausam ermordet wurden etwa 140.000 Menschen - in einem Land mit damals 7 Millionen Einwohnern, d.h. rund 2 % der Gesamtbevцlkerung. Trotz der Schrecken des Terrors versuchte das bulgarische Volk, insbesondere die bulgarische Intelligenz, politischen Widerstand zu leisten. In diesen Bemьhungen sollte das Schweizbild eine bemerkenswerte Rolle spielen. Im Jahre 1947, kurz vor der sogenannten "Nationalisierung" auch des Verlagswesens, konnte das Buch "Schwejzarski skizi" (Schweizerische Skizzen) von Dr. Hristo Al. Zaimov noch erscheinen. Am Beispiel der Schweiz entwirft der Autor fьr seine gerade vor entscheidenden Wahlen stehende Heimat ein nachahmenswertes politisches Bild: "Die Schweiz ist zwar ein kleines Land, dazu noch in drei verschiedene Sprachgebiete geteilt, in ihr ist aber alles einwandfrei geregelt, man findet da eine vorbildliche Staats- und Gesellschaftsordnung, einen bis zur дuЯersten Grenze getriebenen technischen Fortschritt sowie ein unglaublich gut erzogenes und gebildetes Volk - es ist ein wahres Paradies auf Erden!" Der raschen Bolschewisierung und Vergrцberung des Alltagslebens in Bulgarien will der Verfasser, der in der Schweiz Finanzwissenschaft studiert hatte und das Land aus eigener Erfahrung kannte, ein idyllisches Schweizbild entgegensetzen: "Gibt es etwas Angenehmeres als in einem tadellos gefьhrten Hotel an irgendeinem der zahlreichen schweizerischen Seen abzusteigen, den hцchsten Alpengipfel Montblanc zu erreichen, ohne die geringste Mьdigkeit zu verspьren, und selbst auf dem Gipfel keinen Mangel an den elementarsten Dingen festzustellen, die all das ausmachen, was man Behaglichkeit nennt. In keinem anderen Land wie in der Schweiz sind so hochwertige und gewissenhaft hergestellte Waren zu kaufen. Die Ehrlichkeit der Schweizer ist sprichwцrtlich!"4 Begeistert ist der Autor nicht nur "von den adretten Stдdten und Dцrfern, von den unwahrscheinlichen Errungenschaften des schweizerischen technischen Genius, sondern auch von der Ruhe und Ordnung im Lande, von der weitblickenden und weisen Einstellung des Schweizers zu den sozialen Ereignissen, von seinem FleiЯ und seiner Beharrlichkeit, vom unstillbaren Leistungsdrang des Bauern, des Technikers und des Arbeiters, von ihren feinen Erzeugnissen, fьr welche die Schweiz in der ganzen Welt berьhmt geworden ist, von den vorbildlichen Lebensbedingungen, unter denen Reiche wie Arme existieren, von den letzten Erfindungen der Technik, deren sich das gesamte Volk erfreut, von dem Schцnheitssinn sowohl bei den Landsleuten, als auch bei den Stдdtern."5 Ein ganzes Kapitel seines Buches widmet der Autor dem schweizerischen Bildungswesen. Er ist vom hohen Niveau der Universitдten angetan und lobt den Staat, der "die seltene Mцglichkeit fьr eine ernsthafte und schцpferische wissenschaftliche Arbeit gibt." Hervorgehoben wird eine fьr den politischen Wechsel in Bulgarien wichtige Tatsache: "Die in der Schweiz erlernte Wissenschaft steht ьber jeglichen politischen Strцmungen, Fдrbungen und Tendenzen." Indirekt ьbt der Autor Kritik an der raschen Politisierung und Ideologisierung des Bildungswesens in Bulgarien, indem er schlieЯt: "Eine objektive Wissenschaft kann und wird man auch zukьnftig allein in Staaten mit demokratischen Regierungsformen erreichen, wo sich keiner vor dem anderen fьrchtet und Menschen verschiedener ideologischer Auffassungen einig in der Meinung sind, ein Gegner sei viel ehrenwerter, wenn er ьber gute philosophische und theoretische Kenntnisse verfьge, damit ein wahrer politischer Kampf gefьhrt werden kцnnte."6 Der Autor schreckt vor dem kommunistischen Terror in Bulgarien nicht zurьck und nennt geradeheraus den politischen Zweck seines Buches: "Wir wollen unserem braven und fleiЯigen Volke einige der groЯen Errungenschaften eines ebenso kleinen, jedoch heldenhaften Volkes vor Augen fьhren und sein SelbstbewuЯtsein heben, indem wir ihm beweisen, daЯ auch kleine Vцlker zu groЯen Leistungen fдhig sind, ihre Bestimmung haben und oft zu ehrenhaften historischen Taten berufen sind, daЯ sie - wenn sie vorwiegend auf ihre eigenen Krдfte bauen - Betrдchtliches erreichen kцnnen, die beste politische und gesellschaftliche Ordnung in ihrem Staat errichten und sich an erheblichen Vorteilen und Freiheiten ergцtzen werden, von denen viele der groЯen Vцlker ьberhaupt nicht trдumen kцnnten." Mit der letzten Einschдtzung ist unverkennbar das groЯe Sowjetvolk gemeint, das wegen seiner vermeintlichen revolutionдren Leistungen von den bulgarischen Kommunisten als erstrebenswertes Vorbild hochgepriesen wurde. So spielt der Autor die kleine Schweiz gegen die mдchtige Sowjetunion aus, um die von der Barbarei bedrohte Heimat mцglicherweise zu bewahren. Zum SchluЯ bekennt er hoffnungsvoll: "Von der Schweiz kцnnen wir in jeder Hinsicht eine gute und wertvolle Lehre ziehen, insbesondere wir, die Bulgaren, die seit einigen Jahren an einem verhдngnisvollen Scheideweg in unserer geschichtlichen Entwicklung stehen. Wir mьssen allein entscheiden, welchen Weg wir einschlagen."7
Die Erschaffung eines Antimythos Das bulgarische Volk konnte aber seine Entscheidungen nicht allein treffen. Durch die Prдsenz sowjetischer Truppen unterstьtzt, zerschlugen die Kommunisten im selben Jahr 1947 die sogenannten "konterrevolutionдren Gruppierungen" im Lande. Die Opposition wurde abgeschafft, Parlamentsabgeordnete wurden in Schauprozessen "verurteilt" und hingerichtet. Auf diesem Weg wurde die Kommunistische Partei alleinregierend und in Bulgarien begann auf sowjetische Weisung "der Aufbau der Grundlagen des Sozialismus". Als Erstes entfachte man eine Hexenjagd gegen die sogenannten "bьrgerlichen Ьberbleibsel und Verfallserscheinungen in der neuen Gesellschaft". So wurde auch das nunmehr von der kommunistischen Propaganda gesteuerte Schweizbild rasch verдndert: man ьbersah "die vielgerьhmten technischen Errungenschaften" des Landes zwar nicht, es wurde jedoch betont, daЯ die Schweiz eine fьhrende kapitalistische Macht in Europa sei, also ein Reich der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, dazu ein Weltzentrum des Waffenhandels und des Zionismus, der "ideologischen Diversion" und der imperialistischen Spionage gegen das sozialistische Lager, ein Polizeistaat also, in dem Geldgier, Drogensucht und Lebensangst sowie ein maЯloser, ja hysterischer Antisowjetismus und Antikommunismus den Alltag der klassenbewuЯten schweizerischen Werktдtigen unheilvoll ьberschatteten. Als eine Art geistige Auflehnung gegen dieses Propagandabild grьndeten vorwiegend Intellektuelle in Sofia 1947 den "Bulgarisch-Schweizerischen Verein fьr kulturelle Annдherung". Die kommunistische Macht duldete dies zunдchst, und zwar mit der Absicht, daЯ linientreue Parteileute den Verein infiltrieren und ihn zu antikapitalistischen Propagandazwecken sowie zur (Gegen)Spionage miЯbrauchen sollten. Als das nicht gelang, wurde der Verein 1951 aufgelцst und durch ein allgemeines, direkt vom ZK geleitetes "Komitee fьr Freundschaft und kulturelle Beziehungen zum Ausland" ersetzt. Der von den Ideologieapparatschiks fabrizierte Antimythos von der kapitalistischen Eidgenossenschaft wurde allerdings цffentlich nur begrenzt vermittelt; dies entsprach der "revolutionдren Taktik" der kommunistischen Regierung, welche die Schweiz als Wirtschaftspartner sowie als Waffen- und Ausrьstungslieferanten brauchte. In der Schule jedoch wurde "die schwierige Lage des schweizerischen Volkes unter dem Kapitalismus" im Landeskunde- und Geschichtsunterricht gelehrt. Man erzдhlte den Kindern von dem unglьckseligen Heer der Arbeitslosen, von der dьsteren Lebensstimmung im Lande angesichts eines durch die Imperialisten angestifteten neuen Weltkrieges. Das schweizerische Proletariat aber kenne seine revolutionдren Traditionen: es habe doch dem groЯen Lenin einmal Gastfreundschaft gewдhrt, damit er die Kampfzeitschrift "Iskra" (Der Funke) in Zьrich herausgeben und dadurch die GroЯe Sozialistische Oktoberrevolution vorbereiten kцnne. Fьr die kommunistische Propaganda in Bulgarien war jedoch nicht nur die Wirtschaft, sondern auch der ganze Kulturbetrieb der Schweiz von politischen Institutionen gesteuert. (Man ьbertrug die eigene Praxis auf den kapitalistischen Westen, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen.) DemgemдЯ kцnne kein eidgenцssischer Kьnstler frei aussprechen, was ihm am Herz liege, sondern nur das, was man ihm abverlangt hдtte, dafьr wьrde er auch bezahlt. In manchen Literaturwerken seien jedoch auch fortschrittliche Gedanken festzustellen, denn im Grunde stьnden viele Schriftsteller auf der Seite des Volkes und versuchten die eigenen Ansichten durch das Nadelцhr der Zensur zu schmuggeln. Daher mьЯten solche Werke, die der westlichen Lebensweise kritisch gegenьberstьnden, dem bulgarischen Volk nдher gebracht werden. Dies entsprдche der humanistischen Kulturpolitik der Partei. Als ein solcher fortschrittlicher Autor galt in den 60er Jahren der Schweizer Friedrich Dьrrenmatt. Seine Stьcke "Der Besuch der alten Dame" und "Die Physiker" wurden als Satiren einer verkommenen, typisch schweizerischen kapitalistischen Gesellschaft mit groЯem Erfolg auf etlichen bulgarischen Bьhnen gespielt. Die Texte der Stьcke wurden sorgfдltig von "schдdlichen" Stellen "gereinigt" und, wenn nцtig, durch die Regie, welche die letzte Zensurinstanz darstellte, entsprechend "bereichert". Ein solches Verfahren galt als "parteiliches Herangehen an westliches Kulturgut". Gleich erging es der 1972 im Jugendverlag Sofia verцffentlichten Ьbersetzung von Dьrrenmatts Roman "Der Verdacht"8. Aufgrund der Zensurstreichungen und -дnderungen im Text lдЯt sich das offizielle Schweizbild im kommunistischen Bulgarien rekonstruieren.
Der Dichter und sein Henker Der Roman ist die Geschichte eines todkranken Berner Kriminalkommissдrs, der sich als Patient in die berьhmt-berьchtigte Zьricher Klinik "Sonnenstein" einweisen lдЯt, um die dunkle Vergangenheit von deren Chef als Lagerarzt im KZ Stutthof aufzudecken. Das einzige Opfer, das die grausamen medizinischen Experimente dort ьberlebt hat, ein geheimnisumwitterter Jude, hilft ihm dabei und rettet ihn zuletzt aus der Mausefalle. Die Personen des 1953 in Einsiedeln als Buch erschienenen, zuerst 1951/52 im "Schweizerischen Beobachter" verцffentlichten Romans machen Aussagen zur politischen und sozialen Lage in der Schweiz sowie der Welt der Nachkriegszeit, indem sie ihre eigene "Philosophie" zum Ausdruck bringen. Fьr den bulgarischen Zensor, d.h. den verдngstigten Verlagslektor, dessen innere Zensur oft noch strenger als die offizielle sein muЯte, waren alle ДuЯerungen in einem modernen schweizerischen Roman unbedingt von imperialistischen Ideologiezentralen gesteuert, also peinlich genau zu prьfen, zu "sдubern" und notfalls zu "berichtigen". Wenn der alte Kriminalkommissдr, von seiner Entlassung aus dem Berner Kriminalamt erfahrend, eine kleine Rede hдlt und dabei einrдumt, daЯ "die bьrgerliche Weltordnung auch nicht mehr das Wahre sei..., man lasse die groЯen Schurken laufen und stecke die kleinen ein", dann ist das eine willkommene Aussage, zumal sie vom Polizeichef, also von einem Vertreter des schweizerischen Staatsapparates, als "bцsartige Ansichten" qualifiziert wird. Die weitere ДuЯerung des Alten aber, "die Welt sei daran, aus Nachlдssigkeit zum Teufel zu gehen und diese Gefahr sei noch grцЯer als der ganze Stalin und alle ьbrigen Josephe zusammengenommen"9, ist politisch falsch und muЯte berichtigt werden. Anstelle von "Stalin und alle ьbrigen Josephe" steht in der bulgarischen Ausgabe: "alle Unterdrьcker und Diktatoren"10. Wenn eine ehemalige Kommunistin, ein Opfer Stalins, nun Assistentin des Chefarztes, meint, daЯ "es unsere Pflicht sei, dieser Menschheit im Namen der Vernunft zu helfen, aus der Armut und aus der Ausbeutung herauszukommen", so ist diese Bemerkung linientreu und konnte bleiben, dann fдhrt sie aber fort: "Mein Glaube war keine Phrase... Ich bin nach dem Lande geflьchtet, an das ich wie alle Kommunisten geglaubt habe, zu unser aller tugendhaftem Mьtterlein, nach der ehrwьrdigen Sowjetunion... Als die Russen mich in ihre Gefдngnisse vergruben und mich, ohne Verhцr und ohne Urteil, von einem Lager ins andere schoben, ohne daЯ ich wuЯte wozu, zweifelte ich nicht, daЯ auch dies im groЯen Plan der Geschichte einen Sinn habe. Als der famose Pakt zustande kam, den Herr Stalin mit Herrn Hitler schloЯ, sah ich dessen Notwendigkeit ein, galt es doch, das groЯe kommunistische Vaterland zu erhalten. Als ich jedoch eines Morgens nach wochenlanger Fahrt in irgendeinem Viehwagen von Sibirien her von russischen Soldaten tief im Winter des Jahres vierzig, mitten in einer Schar zerlumpter Gestalten, ьber eine jдmmerliche Holzbrьcke getrieben wurde, unter der sich trдge ein schmutziger FluЯ dahinschleppte, Eis und Holz treibend, und als uns am andern Ufer die aus den Morgennebeln tauchenden schwarzen Gestalten der SS in Empfang nahmen, begriff ich den Verrat, der da getrieben wurde, nicht nur an uns gottverlassenen armen Teufeln, die nun Stutthof entgegenwankten, nein, auch an der Idee des Kommunismus selbst, der doch nur einen Sinn haben kann, wenn er eins ist mit der Idee der Nдchstenliebe und der Menschlichkeit."11 Sobald eine ehemalige Antifaschistin, nun aber Assistentin und sogar Geliebte eines SS-Folterknechtes dies bekennt, darf sie keine Kommunistin mehr, geschweige denn ein Stalin-Opfer, gewesen sein - diese Zeilen und andere mehr wurden vom bulgarischen Zensor bedenkenlos gestrichen. Jede ДuЯerung und gar Anspielung darauf, daЯ im heutigen RuЯland "auch Grausamkeiten vorkдmen" und es dort "noch verfolgte und gemarterte Menschen gдbe" oder daЯ "die kommunistische Partei auch Bцses getan habe"12, ist, weil antisowjetisch, also feindlich, aus dem Romantext spurlos verschwunden. GutzuheiЯen waren statt dessen Behauptungen, die den Antimythos von der Schweiz als Polizeistaat bekrдftigen, in dem Ausbeutung, Geldgier und Lebensangst herrschten, wie z.B.: "Das ist Bern immer gewesen, ein trostloses Polizistennest; eine heillose Diktatur hat in dieser Stadt seit jeher genistet." Oder: "Wie man einmal in einem tausendjдhrigen Reich den Revolver entsicherte, sobald man das Wort Kultur hцrte, so sichert man hierzulande das Portemonnaie." Geradezu erpicht war der Zensor darauf, kein Lobeswort zum schweizerischen Demokratiemodell zuzulassen. Der Text wurde sorgfдltig von schдdlichen Ansichten wie der folgenden "gesдubert": "Wichtig ist, daЯ die Wahrheit gesagt werden kann und daЯ man den Kampf fьr sie fьhren darf und nicht gleich nach Witzwil kommt. Das ist in der Schweiz mцglich, wir sollen das ruhig zugeben und auch dankbar dafьr sein, wir haben uns vor keinem Regierungs- oder Bundesrat zu fьrchten, oder wie die Rдte alle heiЯen." Schon der nдchste Satz aber bestдtigt das offizielle Schweizbild und konnte bleiben: "Freilich, es muЯ mancher dabei in Lumpen gehen und lebt etwas ungemьtlich ins Blaue hinein. DaЯ dies eine Schweinerei ist, gebe ich zu."13 Jedoch eine Reihe von ДuЯerungen, die den Antimythos von der Schweiz als Weltzentrum der "ideologischen Diversion" und der Spionage gegen die sozialistischen Lдnder sowie des Zionismus und der Drogensucht eher bestдtigen, wurden vom Zensor gleichfalls gestrichen, und zwar wegen der Befьrchtung, sie kцnnten sich auf die politisch noch nicht ausreichend geschulten jungen bulgarischen Literaturfreunde negativ auswirken. Als "ideologische Diversion" galten jegliche Stellungnahmen zu philosophischen und religiцsen Fragen in Werken nichtmarxistischer Schriftsteller - sie wurden von indoktrinierten Literaturkritikern in Buchbesprechungen meistens als existentialistisch "demaskiert". Das konnte fьr Ьbersetzer und Verlagslektor schlimme Folgen haben: vom unbefristeten Reiseverbot fьr das westliche Ausland bis zur Entlassung aus der Arbeitsstelle oder der Ausweisung. Um dies zu vermeiden, muЯte ein Lektor bei einem bьrgerlichen, d.h. auch schweizerischen Autor besonders wachsam vorgehen. So wurden manche philosophischen und ethischen Auffassungen in Dьrrenmatts Roman, obwohl absichtlich oft ad absurdum gefьhrt, vom Zensor vorsichtshalber gestrichen. Verschwunden sind in der bulgarischen Ьbersetzung Zeilen wie: "Da werden wir, ohne gefragt zu werden, auf irgendeine brьchige Scholle gesetzt, wir wissen nicht wozu; da stieren wir in ein Weltall hinein, ungeheuer an Leere und ungeheuer an Fьlle, eine sinnlose Verschwendung, und da treiben wir den fernen Katarakten entgegen, die einmal kommen mьssen - das einzige, was wir wissen."14 Oder: "Die Erde ist zu alt, um noch ein Ja, Ja zu werden, das Gute und das Bцse sind zu sehr ineinander verschlungen in der gottverlassenen Hochzeitsnacht zwischen Himmel und Hцlle, die diese Menschheit gebar, um je wieder voneinander getrennt zu werden."15 Beseitigt wurden zudem auch Aussagen, welche die Pflichtdoktrin des Marxismus-Leninismus in ihrem Bestreben, eine glьckliche kommunistische Zukunft fьr die Menschheit zu beschwцren, wenn auch indirekt, in Zweifel ziehen, wie z.B.: "Es ist Unsinn, an die Materie zu glauben und zugleich an einen Humanismus... Es gibt keine Gerechtigkeit - wie kцnnte die Materie gerecht sein -, es gibt nur die Freiheit, die nicht verdient werden kann..., sondern die man sich nehmen muЯ. Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen, weil sie selbst ein Verbrechen ist."16 Der bulgarische Zensor hat sich sogar bemьht, ideologisch unrichtige Ansichten von Romanpersonen durch Дnderungen oder Ergдnzungen zu "verbessern". Im Originaltext heiЯt es: "Das Gesetz ist das Laster, das Gesetz ist der Reichtum, das Gesetz sind die Kanonen, die Trusts, die Parteien"17. In der Ьbersetzung aber sind "die Parteien" wegradiert und durch "das Kapital" ersetzt worden, obendrein hat man die Bestimmung "in dieser verfallenen Welt"18 hinzugefьgt, damit der Leser genau weiЯ, daЯ hier die kapitalistische Schweiz, aber keinesfalls das sozialistische Bulgarien in Betracht kommt. DaЯ die Eidgenossenschaft fьr die kommunistische Propaganda auch als Zentrum der Weltspionage galt, kann durch die Zensurstreichungen und -дnderungen jener Romanstellen belegt werden, wo die geheimnisvolle Tдtigkeit des ruhelos durch die Welt irrenden Juden in der Sowjetunion erwдhnt wird, zumal er immer wieder in die Schweiz zurьckkehrt. Es sind hauptsдchlich Dialogsдtze wie: ""Bist du denn wieder in RuЯland gewesen?" - "Mein Geschдft, Kommissar. Du weiЯt, wofьr ich kдmpfe."", oder: ""Leb wohl, Kommissar, es geht auf eine nдchtliche Reise in die groЯe russische Ebene, es gilt, einen neuen dьsteren Abstieg in die Katakomben dieser Welt zu wagen, in die verlorenen Hцhlen jener, die von den Mдchtigen verfolgt werden.""19 Der letzte Satz wurde vom Zensor stark reduziert und dadurch sinnverдndert. Als die bulgarische Ausgabe von Dьrrenmatts Roman zum Druck vorbereitet wurde, waren nur wenige Jahre nach dem Israelisch-Arabischen "Sechstagekrieg" vergangen, der zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Israel durch die Sowjetunion und fast alle anderen kommunistischen Staaten gefьhrt hat. Der Antimythos von der Schweiz als Zentrum des Weltzionismus, das die Israelis mit Waffen, Logistik und politischer Unterstьtzung beliefert, damit sie ihren imperialistischen Feldzug gegen die fьr den Sozialismus aufgeschlossenen Araber fortsetzen kцnnen, lдЯt sich aufgrund mehrerer Textstreichungen verfolgen. Vom Zensor entfernt wurden alle zionistisch anklingenden Sдtze wie: "Ich bin ein Jude und... ich liebe das Nationalkostьm meines armen Volkes."20 Oder: "Der Jude im alten, verschimmelten Kaftan"21 Und dann das gefдhrlichste: "Ich war gerecht nach dem Gesetze Mosis, gerecht nach meinem Gotte."22 An vielen Stellen, wo es vom "armen Juden" die Rede ist, wurde dies durch das Harmlosere "armen Menschen" ersetzt.23 Zum kommunistischen Antimythos gehцrt auch die Vorstellung von der Schweiz und insbesondere von Zьrich als einem Weltzentrum des Drogenhandels und der Drogensucht. Daher wurden alle Aussagen im Roman beseitigt, welche die Morphiumabhдngigkeit der Chefarztassistentin begrьnden, und zwar aus Angst, sie kцnnten die unerfahrenen bulgarischen Jugendlichen dazu bewegen, diesem Beispiel von westlicher Lebensweise zu folgen. (Es gab bereits frappante Fдlle der Drogensucht unter Kindern von Parteifunktionдren, die ьberallhin in die Welt, d.h. auch in die Schweiz, fahren durften.) Gestrichen wurde also die eigentlich mahnende Beichte der ehemaligen Kommunistin und KZ-lerin: "Die Erde ist nicht mehr als Paradies herstellbar... Wir kцnnen nur noch in unseren Trдumen zurьckgewinnen, was wir verloren haben, in den leuchtenden Bildern der Sehnsucht, die wir durch das Morphium erlangen. So tue ich denn, Edith Marlok, ein vierunddreiЯigjдhriges Weib, fьr die farblose Flьssigkeit, die ich mir unter die Haut spritze, die mir am Tag den Mut zum Hohn und in der Nacht meine Trдume verleiht, die Verbrechen, die man von mir verlangt, damit ich in einem flьchtigen Wahn besitze, was nicht mehr da ist: diese Welt, wie ein Gott sie erschaffen hat."24 Die Zensurstreichungen und -дnderungen in der Ьbersetzung von Friedrich Dьrrenmatts Roman "Der Verdacht" beziehen sich auf einzelne Wцrter, aber auch auf ganze Textseiten. Sie hatten unter anderem den Zweck, das "alte", nachahmenswerte bulgarische Schweizbild zu verдndern, mцglichst einseitig neuzugestalten und auf ein gдngiges, fьr die ideologische Schulung der Bevцlkerung brauchbares Klischee zu reduzieren - also in einen Antimythos zu verwandeln. Dabei hat der schweizerische Dichter in der Person des kommunistischen Zensors seinen Henker gefunden.
AuЯerhalb der Klischees? In den 80er Jahren machte sich ein ideologischer Kurswechsel auch in Bulgarien bemerkbar. Dieser geschah im Sog der sich schon ankьndigenden neuen sowjetischen Politik von Glassnost und Perestrojka. Damit eine demokratische Цffnung nach Westen vorgetдuscht werden konnte, muЯte der jahrzehntelang kultivierten Antimythos von der kapitalistischen Schweiz zumindest teilweise demontiert werden. Dabei trat nun wieder die schon mehrmals erprobte "revolutionдre Taktik" der kommunistischen Partei zutage. Diese taktische Quasiцffnung sowie die dementsprechende Teilverschцnerung des offiziellen bulgarischen Schweizbildes lдЯt sich an der Reportagenreihe verfolgen, welche in der Wochenzeitung "Pogled" (Blick), einem Organ des gleichgeschalteten Verbandes der Bulgarischen Journalisten, Anfang 1983 erschienen ist. Schon mit dem Gesamttitel "Die Schweiz auЯerhalb der Klischees" wird stillschweigend eingestanden, daЯ im sozialistischen Bulgarien bisher nur ein Klischeebild von der Eidgenossenschaft dargeboten worden war. In der ersten Reportage macht der "auЯenpolitische Beobachter" der Zeitung die "Entdeckung", fьr einen groЯen Teil der Welt sei die allerdings bereits verдnderte Schweiz ein Rдtsel, das hinter ein paar Klischees verborgen bliebe, welche sie entweder als ein Paradies oder als ein Land von pummeligen, rotwangigen und ьbersдttigten SpieЯbьrgern darstellten. Bald darauf aber spricht der Autor nicht mehr im Namen "eines groЯen Teils der Welt" - ob damit das ganze sozialistische Lager gemeint ist, bleibt offen -, sondern gibt kleinlaut zu, "unsere Vorstellung" von der Schweiz als einem Land, in dem es lauter Banken, Schokoladen- und Uhrenfabriken gдbe, an deren Zдunen rassige Kьhe weideten, sei schon zu revidieren. Nur wenige wьЯten ja, daЯ die Schweiz einst das дrmste Land Europas gewesen sei: das Einzige, was sie jahrhundertelang habe exportieren kцnnen, seien junge Mдnner, die als Sцldner an benachbarten Kцnigshцfen Kriegsdienste geleistet hдtten - heute noch bestьnde die pдpstliche Leibgarde im Vatikan aus Schweizern. Der Sonderkorrespondent nimmt manche Striche des bisher verworfenen "bьrgerlichen" Schweizbildes auf, die der Partei als gutes Beispiel fьr das bulgarische Volk dienlich sein kцnnten. Belehrend bemerkt er: "Die Schweizer arbeiten viel und gern, sie leisten Qualitдtsarbeit, denn sie sind sprichwцrtlich fleiЯig." Dann aber zieht er einige Propagandaklischees zum Ausgleich herbei: "Zьrich, das Finanzherz der Schweiz, ist ein Zentrum der Drogensucht. (Im Jahre 1981 hat die schweizerische Polizei 70,000 Gummigeschosse, ohne jegliche Spur von Barmherzigkeit, gegen demonstrierende junge Leute von der BahnhofstraЯe verschossen. Das ist auch eine Tatsache aus dem Leben dieses Landes.)"25 Aus der Anordnung der Tatsachen sollte der Zeitungsleser den SchluЯ ableiten, junge Leute in der Schweiz seien drogenabhдngig geworden infolge des bisher ergebnislosen Kampfes gegen die kapitalistische Staatsordnung. Die Polizei schцsse erbarmungslos, damit die Jugend von Demonstrationen abgehalten werde, und stifte dadurch die Drogensucht im Lande an. Aus den weiteren Reportagen war zu erfahren, daЯ die Schweizer im allgemeinen die Zentralisierung fьrchten. Dies soll bedeuten, die Eidgenossen hдtten auch vor einer zentralisierten Planwirtschaft, wie der sozialistischen, Angst, deshalb lebe man ungemьtlich, unsicher und unter gewaltigem psychischem Druck; abschlieЯend heiЯt es: "Nach der Anzahl der Selbstmorde steht Zьrich an zweiter Stelle in der Welt."26 Fьr den kommunistischen Berichterstatter, der die neue, zweideutige Parteipolitik betreiben soll, ist der Schweizer "manchmal kleinlich, wenn aber diese Kleinlichkeit mit dem Arbeitsplatz, mit dem Beruf und der Achtung fьr die Arbeit zu tun hat, wird sie unmerklich zu etwas GrцЯerem als trockener Pedanterie. Daher heiЯt die Kleinlichkeit hierzulande oft Pьnktlichkeit, Sachlichkeit, Akkuratesse und Disziplin."27 Die kapitalistische Geldgier sei jedenfalls schдdlich fьr die Schweiz, denn "je reicher einer wird, um so kдlter werden seine Augen... Die einfachen, дuЯerst redlichen Schweizer aber цffnen sich immer mehr zur Welt, mit ihnen ist leicht Kontakt aufzunehmen." (Noch 1983 hat man in Bulgarien also auf eine Цffnung der "einfachen" Eidgenossen zur Welt des Sozialismus gebaut.) Der Autor bietet auch die Erklдrung dafьr: "Die Schweizer sind ьbersдttigt, allerdings nicht sehr glьcklich. An ihren Lebensstandard denkend, versдumen sie wichtigere Dinge."28 Mit mahnend erhobenem Finger schlieЯt der gar nicht so "auЯenpolitische" Zeitungsbeobachter seine Reportagenreihe ab. Das schon im Titel angekьndigte Portrдt einer "Schweiz auЯerhalb der Klischees" sollte ihm erspart bleiben, weil er Zьge des offiziellen Antimythos mit solchen des vorkommunistischen bulgarischen Schweizbildes zweckdienlich vermischt hat. Auf alle Fдlle stellen seine Berichte eine Цffnung zur Schweiz dar, die der jahrzehntelang wдhrenden grundsдtzlichen Ablehnung ein Ende bereitet hat. So widmet man 1985 in der Tageszeitung "Otetschestven front" (Vaterlдndische Front) dem Nationalfeiertag der Eidgenossenschaft einen Aufsatz, und zwar gleichfalls unter dem vielsagenden Titel: "Das wahre Gesicht von Genf". VorschriftsgemдЯ hebt der Autor auch hier "den FleiЯ und den Lebensmut des gesamten schweizerischen Volkes" als nachahmenswert hervor.29 Und in einem Artikel aus dem Jahre 1989 in der Parteizeitung "Rabotnitschesko delo" (Arbeitersache) werden die sozialistisch verschwenderischen Bulgaren durch die Behauptung belehrt: "Die Wohltдtigkeit wird in der Schweiz ernst genommen, jedoch auch die Berechnung."30 Also: keinen Lob ohne Tadel! Das Schweizbild des kommunistischen Bulgarien war in den spдten 80er Jahren allerdings schon verдndert. Beim ProzeЯ der allmдhlichen Demokratisierung des sozialen und politischen Lebens hatte das eidgenцssische Beispiel, wie dies im geschichtlichen Werdegang Bulgariens so oft der Fall war, an Bedeutung gewonnen. Als erwьnschtes Gegenstьck zum dьsteren sozialistischen Alltag hatte man das alte, fast idyllische Bild wiederbelebt. Dies veranlaЯte den damaligen schweizerischen Botschafter in Sofia dazu, in einem Interview mit der Zeitung "Pogled" auszusagen: "Der Bulgare hat eine positive Einstellung zur Schweiz, manchmal ist sein Begriff von meinem Lande sogar rosiger, als es die eigentliche Wirklichkeit ist. Er kennt mehr das Allgemeine ьber die Schweiz und weniger die Einzelheiten."31
Das ausgewogene Bild Im Herbst 1989 wurde der Generalsekretдr der Bulgarischen Kommunistischen Partei Todor Shivkov bei einem Putsches im Politbьro gestьrzt. Dies leitete eine stьrmische politische Entwicklung im Lande ein, es kam zu den ersten freien Wahlen seit fьnfundvierzig Jahren, bei denen die Kommunisten ihre Alleinherrschaft einbьЯen. Schon Anfang April des folgenden Jahres wurde in der Universitдt Sofia die "Vereinigung Bulgarien-Schweiz" gegrьndet, die sich fьr den legitimen Nachfolger des 1951 aufgelцsten "Bulgarisch-Schweizerischen Vereins fьr kulturelle Annдherung" hielt.32 Damit begann auch die langsame Entstehung eines freien und ausgewogenen Schweizbildes in Bulgarien. Ganz besonders trugen dazu ДuЯerungen von heimgekehrten bulgarischen Emigranten bei, die seit langem in der Schweiz gelebt hatten und das Land sowie dessen Volk nicht bloЯ von journalistischen Reiseeindrьcken her kannten. So setzte Prof. Sofija Wrantschev in einem Gesprдch mit der Zeitung "Wek 21" (21. Jahrhundert) einen neuen MaЯstab fьr die kritische Aneignung des Schweizbildes: "Der Schweizer ist ein Mensch, der immer nach KompromiЯlцsungen sucht, denn er ist als ein Neutraler geboren. Im Alltag sind das sehr ruhige, hцfliche und liebenswьrdige Leute, die viel ьberlegen und schwer ihre Meinung hergeben. Der Schweizer ist ein verschlossener Mensch, der keinen Sinn fьr Humor hat, dafьr aber einen Sinn fьr Verantwortung... Die schweizerische Demokratie fдngt vom kleinsten Dorf und nicht von einer Regierungsebene an. Dort gelten die Gesetze fьr alle - angefangen vom StraЯenkehrer bis zum Minister. Die Demokratie beginnt von jeder Person, und die Menschen werden nicht in Stдnde und Nationalitдten eingeteilt. Dennoch sind die persцnlichen Eigenschaften da die wichtigste Charakteristik, und das Bankkonto bedeutet die hцchste Empfehlung."33 * * * Das offizielle Scweizbild im kommunistischen Bulgarien war von HaЯ, Neid und einem vorprogrammierten MiЯtrauen geprдgt; dies entsprach der ideologischen Forderung nach "Parteilichkeit" in jeder politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Einschдtzung. Ein neues, ausgewogenes Schweizbild kann im posttotalitдren Bulgarien also nur im Spannungsverhдltnis von der schwindenden Voreingenommenheit und einer freien kritischen Einsicht entstehen. Die bulgarische Optik als Beobachtungsprinzip gegenьber der Schweiz ist bisher immer ein und dieselbe gewesen: man vergleicht die Verhдltnisse im eigenen Land mit denen in der Schweiz, um deren MaЯstдbe fьr besser und nachahmenswert zu preisen, und zwar aus verstдndlichem Grunde: beide Lдnder sind klein, bergreich und haben eine fast gleichgroЯe Bevцlkerung; beide haben eine дhnliche geschichtliche Entwicklung durchgemacht, sind einst arm gewesen, haben unter fremder Herrschaft gelitten und muЯten ihre Freiheit und Unabhдngigkeit durch schwere Kдmpfe gegen die Unterdrьcker erringen. Infolgedessen weisen auch die Lebenseinstellungen beider Vцlker дhnliche Zьge auf, wie Verschlossenheit, Mitleidsfдhigkeit, Bereitschaft zu KompromiЯlцsungen, Menschen- und Gastfreundlichkeit, FleiЯ, Lebensmut usw. Daher haben die Bulgaren auch in frьheren Zeiten immer wieder ein Vorbild fьr den eigenen Gebrauch am Beispiel der Schweiz entworfen: dieses umfaЯt vor allem anderen eine freie und demokratische Staatsordnung, dann einen groЯen wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, der wьrdige Lebensbedingungen mцglich macht, sowie ein Bildungswesen, das ьber den politischen Tendenzen steht. Zu diesem Vorbild gehцrt weiterhin die Vorstellung von einem gut erzogenen Volke, das eine weise Einstellung zu den sozialen Ereignissen besitzt. Man hat am schweizerischen Beispiel sein SelbstbewuЯtsein gestдrkt, und zwar durch den Glauben, daЯ "auch kleine Vцlker - wenn sie auf ihre eigenen Krдfte bauen - zu groЯen Leistungen fдhig sind". In Krisenzeiten hat das bulgarische Schweizbild immer wieder an idyllischen Zьgen gewonnen. Dies ist auf die gestцrten Lebensverhдltnisse und das menschliche Bedьrfnis nach Identitдtsfindung gegenьber fremder Herrschaft, Staatsgewalt und Parteiapparat zurьckzufьhren. Im heutigen demokratischen Bulgarien ist nun das Problem der Zugehцrigkeit des Landes zum "PulverfaЯ" Balkan mit dem Bedьrfnis nach einer europдischen Identitдt verbunden. Nach dem bulgarischen Philosophen und gegenwдrtigen Prдsidenten der Republik, Dr. Shelju Shelev, "erцffnet die Frage nach dem Charakter "des Balkans" und nach seiner Stellung in der europдischen Politik einen zentralen Aspekt fьr die Aufarbeitung der neuen postkommunistischen Erfahrung". Denn: ""Europa"... ist auch mehr als nur eine Gemeinschaft von mehreren Hundert Millionen Menschen, die auf einem Territorium leben - "Europa" ist gleichsam eine exterritoriale Gemeinschaft, die in einer neuen Welteinstellung wurzelt."34 In diesen nationalen Bestrebungen nach einer kontinentalen Identitдtsfindung wird ein freies und ausgewogenes Schweizbild bestimmt auch kьnftig als Vorbild fьr Bulgarien "im groЯen Plan der Geschichte" eine Rolle spielen.
ANMERKUNGEN 1. Anonym: "Wie die Schweizer und ihre Senner den Kдse zubereiten" (bulg.), in: "Blygarski knishizi", Hrg. Dimityr Mutev, Zarigrad-Galata, Teil. III, H.1, November 1858, S.222 ff. [back] 2. Anonym: "Die Schweiz" (bulg.), in: "Tschitalischte", o.O., Jg. III, H.10, 31. Juli 1873, S.883. [back] 3. Ebd., S.878. [back] 4. Dr. Hristo Al. Zaimov: "Schweizerische Skizzen" (bulg.), Verlag "Bylgarski petschat", Sofia 1947, S.3. [back] 5. Ebd., S.6. [back] 6. Ebd., S.116 f. [back] 7. Ebd., S.6 f. [back] 8. Friedrich Dьrrenmatt: "Podozrenieto". Roman. (bulg.), Ьbersetzung ins Bulgarische von Wenzeslav Konstantinov, Verlag "Narodna mladesh", Sofia 1972. [back] 9. Friedrich Dьrrenmatt: "Der Verdacht". Roman., Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1961, S.16. [back] 10. "Podozrenieto, S.17. [back] 11. "Der Verdacht", S.81. [back] 12. Ebd., S.28, 33, 34, 87, 107, 109, 121. [back] 13. Ebd., S.52 ff. [back] 14. Ebd., S.84. [back] 15. Ebd., S.87. [back] 16. Ebd., S.110. [back] 17. Ebd., S.84. [back] 18. "Podozrenieto", S.84. [back] 19. "Der Verdacht", S.26 f, 116, 120. [back] 20. Ebd., S.26. [back] 21. Ebd., S.33. [back] 22. Ebd., S.119. [back] 23. Ebd., S.27, 35, 38, 119 ,120, 121. [back] 24. Ebd., S.88. [back] 25. Entscho Gospodinov: "1. Lassen wir unsere Uhren abstimmen" (bulg.), in: "Pogled", Sofia, Nr.3, 17.1.1983. [back] 26. Entscho Gospodinov: "2. Unter der Haut der Eidgenossenschaft" (bulg.), in: "Pogled", Sofia, Nr.4, 24.1.1983. [back] 27. Entscho Gospodinov: "3. Nicht nur die Kuckucksuhr" (bulg.), in: "Pogled", Sofia, Nr.5, 31.1.1983. [back] 28. Entscho Gospodinov: "4. Menschen und Zahlen" (bulg.), in: "Pogled", Sofia, Nr.6, 7.2.1983. [back] 29. Ljubomir Koralov: "Das wahre Gesicht von Genf" (bulg.), in: "Otetschestven front", Sofia, 1.8.1985. [back] 30. Ekaterina Genova: "Der Schweizer - der gewцhnliche Ungewцhnliche" (bulg.), in: "Rabotnitschesko delo", Sofia, Nr.29, 29.1.1989. [back] 31. Petyr Pydev: "Michael von Schenk, der schweizerische Botschafter in Bulgarien, im Gesprдch mit "Pogled"" (bulg.), in: "Pogled", Sofia, Nr.38, 18.9.1989. [back] 32. Anonym: "Die Vereinigung Bulgarien-Schweiz" (bulg.), in: "Demokrazija", Sofia, Nr.52, 24.4.1990. [back] 33. Marija Aleksandrova: "Ein Gesprдch mit Frau Prof. Sofija Wrantschev: 'Die Schweiz bedeutet auch Demokratie'" (bulg.), in: "Wek 21", Sofia, Nr.34, 21.11.1990. [back] 34. Shelju Shelev: "Der Balkan und der europдische Raum", in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung", Frankfurt am Main, Nr.196, 24.8.1992, S.10. [back]
© Wenzeslav Konstantinov Publication: Bild und Begegnung. Kulturelle Wechselseitigkeit zwischen der Schweiz und Osteuropa im Wandel der Zeit, Basel und Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn, 1996, 185-200.
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