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ELIAS CANETTI - EIN ЦSTERREICHISCHER
SCHRIFTSTELLER?
Verwandlungen zwischen Rustschuk und Wien Wenzeslav Konstantinov Als die Weltpresse am 15. Oktober 1981 die Nachricht verbreitete, der neue Nobelpreistrдger fьr Literatur sei der Schriftsteller Elias Canetti, versetzte die Entscheidung der Schwedischen Kцniglichen Akademie die Berichterstatter in Verlegenheit: der in London und Zьrich lebende, damals 76-jдhrige Autor war nur einem beschrдnkten Leserkreis bekannt, man begeisterte sich fьr seine Autobiographie "Die gerettete Zunge" und wuЯte einiges vom Theaterskandal, den die erste Auffьhrung des Dramas "Komцdie der Eitelkeit" - dreiЯig Jahre nach dem Entstehen - in Braunschweig hervorgerufen hatte. Die Verwirrung entstand auch dadurch, daЯ niemand mit Sicherheit sagen konnte, welcher Nationalitдt der Erwдhlte angehцrte. GewiЯ war jedoch, daЯ Elias Canetti in Rustschuk, Bulgarien geboren war: dies war wohl der Grund dafьr, daЯ man ihn fьr einen bulgarischen Schriftsteller hielt und in die Sparte "Bulgarische und rumдnische Romane und Novellen" eines reprдsentativen Romanfьhrers1, eingeordnet hatte. Die Kritik hielt Canetti fьr einen "lebenden Klassiker", nannte ihn "einen der letzten groЯen Humanisten", und verstand darunter "einen Intellektuellen, der jahrzehntelang an seinem Pult arbeitete, Universalhypothesen ersann und schlieЯlich vor dem Wagnis nicht zurьckschrak, eine einheitliche Deutung des ganzen Weltsystems aus eigener Kraft aufzustellen".2 Man sprach den Namen Elias Canetti in einem Atemzug mit den Namen von Robert Musil, Hermann Broch und Franz Kafka aus, sah in ihm den Fortfьhrer der groЯen Traditionen im цsterreichischen Roman. Schon 1962 hatte Erich Fried bemerkt: "In Цsterreich, das er 1938 verlieЯ, ist Canetti der weiteren Цffentlichkeit kaum bekannt. Mit Ausnahme der Wenigen, die die Lektьre der "Blendung" auch nach Jahrzehnten nicht vergessen haben, wissen hier fast nur Schriftsteller und andere schцpferische Menschen, um was es sich handelt, wenn dieser Name fдllt. Das ist umso erstaunlicher, weil die Substanz von Canettis Werk so sehr die Wiens ist. In die Reihe der groЯen Satiriker Wiens, die sich durch die Namen Abraham a Santa Clara, Johann Nestroy und Karl Kraus abstecken lдЯt, gehцrt als zeitlich letzter Elias Canetti."3 Auch Herbert Zand hatte dazu Stellung genommen: "In ihm ist цsterreichische Erfahrung lebendig, er kann uns besser als andere mitdenken."4 Im 1977 erschienenen ersten autobiographischen Buch "Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend" unterstreicht Canetti jedoch ausdrьcklich, gerade die Erlebnisse im bulgarischen Heimatort seien entscheidend fьr seine geistige und kьnstlerische Entwicklung. "Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt fьr ein Kind. [...] Alles was ich spдter erlebt habe, war in Rustschuk schon einmal geschehen."5 Und dann: "Ich kann nur eines mit Sicherheit sagen: die Ereignisse jener Jahre sind mir in aller Kraft und Frische gegenwдrtig - mehr als sechzig Jahre habe ich mich von ihnen genдhrt."6 Um die Zugehцrigkeit Elias Canettis zu einer Nationalliteratur zu prьfen und zu ergrьnden, mьЯte man allerdings zuerst die Fragen beantworten: In welchen Verhдltnissen standen die Familie Canettis und er selbst zu Bulgarien und zu Цsterreich? Welche Rolle spielte die bulgarische Donaustadt Rustschuk im geistigen Werdegang des Denkers und Schriftstellers Elias Canetti? Welche sind die schicksalstrдchtigen Schlьsselerlebnisse in der Kindheit, die ihn geprдgt und den lebendigen Kern seines Schaffens ausgemacht haben? Welche sind jene "disparaten Elemente", die er in sich trug, die in den frьhen Jahren zerstreut und unverbunden in ihm herumlagen, um in einem spдteren, entscheidenden Moment zu einem "unsichtbaren Kristall" zusammenzuschieЯen, der "nie mehr aufzulцsen ist, von dessen harter, spьrbarer, ja vielleicht schmerzlicher Form alles bestimmt sein wird".7 (So Canetti in seiner Rede anlдЯlich der Verleihung des GroЯen Цsterreichischen Staatspreises im Jдnner 1968.) ZUR FAMILIENGESCHICHTE Die Vorfahren kamen aus der spanischen Stadt Caсete, die zwischen Cuenca und Valencia liegt. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden die spanischen Juden durch das Edikt von Isabella der Katholischen und Ferdinand von Aragonien aus Spanien vertrieben.8 Beim letzten groЯen Exodus im Jahre 1492 - dem Jahr des Falls von Granada und der Entdeckung Amerikas - soll die Familie Canettis, die damals Caсete hieЯ, zusammen mit 35.000 anderen hebrдischen Familien Spanien verlassen haben. Elias Canetti bemerkt selbst dazu: "Viele dieser Juden wurden in der Tьrkei gut aufgenommen. Der tьrkische Sultan fand nьtzliche Untertanen in ihnen. Sie hatten allerhand Fertigkeiten; es gab Дrzte unter ihnen, Finanziers, Handwerker, die besondere Dinge beherrschten. Sie wurden gut behandelt, und sie verbreiteten sich ьber das ganze damalige tьrkische Reich, haben aber ihre spanische Sprache behalten, und zwar das Spanisch jener Zeit. Meine Familie vдterlicherseits war wдhrend einiger Jahrhunderte in Adrianopel angesiedelt, das tьrkisch Edirne heiЯt, und mein GroЯvater wanderte von dort nach Bulgarien, und da kam ich dann zur Welt."9 Zu Beginn des 19. Jahrhundert italienisierte einer der Vorfahren des Schriftstellers den ursprьnglichen Nachnamen, indem er aus Caсete Canetti machte. Beide Brьder von Canettis GroЯvater, Abraham und Moiss Canetti, wanderten schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts nach Rustschuk. Ihre Namen wurden 1869 im Konstantinopeler "Journal israelite" erwдhnt, als der Kaiser Franz Josef auf der Reise nach Konstantinopel in Rustschuk Halt machte und von einer Deputation, an der die Brьder Canetti teilnahmen, empfangen wurde. Kurz darauf ist Abraham Canetti zum Konsul von Цsterreich-Ungarn in Rustschuk ernannt worden. Noch weiter lдЯt sich die Familiengeschichte des Schriftstellers mьtterlicherseits zurьckverfolgen. Die Mutter, Mathilde Canetti, war eine Enkelin des angesehenen jьdischen Historikers und Aufklдrers Abraham ben Israel Rosanes, genannt Abir. Ihm verdankte man in Rustschuk 1869 die Erцffnung der ersten jьdischen weltlichen Schule in Bulgarien. Seine Vorfahren sollen ursprьnglich von der nцrdlich von Barcelona gelegenen katalanischen Stadt Rosas gekommen sein.10 Beide GroЯeltern des Schriftstellers stammten aus Adrianopel. Der GroЯvater, der ebenfalls Elias Canetti hieЯ, war GroЯhдndler und besaЯ ein Geschдft in Rustschuk, in dem man Kolonialwaren en gros verkaufte. Canetti erinnert sich: "Ein eifriges und zugleich zдrtliches Wort, das ich oft hцrte, war 'la butica'. So nannte man den Laden, das Geschдft, in dem der GroЯvater und seine Sцhne den Tag zubrachten. [...] Es lag an einer steilen StraЯe, die von der Hцhe der reicheren Viertel Rustschuks stracks zum Hafen hinabfьhrte. An dieser StraЯe lagen alle die grцЯeren Geschдfte; das des GroЯvaters befand sich in einem dreistцckigen Haus, das mir stattlich und hoch erschien, die Wohnhдuser auf dem Hьgel oben waren einstцckig."11 Bulgarische Lokalforscher konnten feststellen, daЯ das eigentlich zweistцckige Handelshaus im Jahre 1898 gebaut wurde und sich in der alten HandelsstraЯe "Slawjanska" (frьher: "Mitarna") Nummer 12 befindet. "Es ist ein massiver Bau, dessen Vorderfront mit Ornamenten, einer Frauenfigur, einem aus Stein gemeiЯelten Familienmonogramm und Balkons mit geschwungenen schmiedeeisernen Gelдnder verziert ist".12 Die Firma "Elias Canetti & Sцhne" hatte Niederlassungen im ganzen Land und nahm am Handelsleben Bulgariens nach dessen Befreiung von der tьrkischen Fremdherrschaft im Jahre 1878 aktiv teil. Der Schriftsteller selbst dazu: "Der GroЯvater, der seine Kinder als unerbittlicher Patriarch regierte, steckte jeden seiner Sцhne frьh ins Geschдft, in jeder grцЯeren Stadt Bulgariens sollte es eine Filiale davon geben, unter der Obhut eines seiner Sцhne."13 Der Vater des Schriftstellers, der Kaufmann Jacques Canetti, wurde 1882 in Adrianopel geboren und kam noch als Kind mit der ganzen Familie nach Rustschuk.14 Die Mutter, Mathilde Canetti, geb. Arditti, kam 1885 schon in Rustschuk zur Welt. Sie entstammt "einer der дltesten und wohlhabendsten Spaniolen-Familien in Bulgarien" und ihr Vater, der hochmьtige Nissim Arditti, "widersetzte sich einer Ehe seiner Jьngsten, die seine Lieblingstochter war, mit dem Sohn eines Emporkцmmlings aus Adrianopel".15 So Elias Canetti. Die drei Familien - Canetti, Arditti und Rosanes - sollen eine bedeutende Rolle im Gesellschaftsleben des alten Rustschuk gespielt haben. Bekannt ist auch ihre Tдtigkeit zugunsten der Sache der nationalen Befreiung Bulgariens.16 Nach der Geburtsurkunde, die im Stadtrathaus des heutigen Russe von Lokalforschern entdeckt wurde, erblickte Canetti das Licht der Welt am 12. (jetzt: 25.) Juli 1905 um 1 Uhr mittags in seinem Elternhaus in der GurkostraЯe 33 (jetzt: 13). Das Gebдude sowie das Haus des GroЯvaters und jenes der Tante Sophie Eljakim - alle einstцckig und mit einem gemeinsamen Hof - sind bis heute erhalten geblieben.17 In Rustschuk verlebte Elias Canetti die ersten sechs Jahre seines Lebens. Um die Jahrhundertwende herrschte da eine babylonische Verwirrung von Sprachen, Nationalitдten, Menschentypen. In seinen Memoiren notierte Canetti: "Es lebten dort Menschen der verschiedensten Herkunft, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hцren. AuЯer den Bulgaren, die oft vom Lande kamen, gab es noch viele Tьrken, die ein eigenes Viertel bewohnten, und an dieses angrenzend lag das Viertel der Spaniolen, das unsere. Es gab Griechen, Albanesen, Armenier, Zigeuner. Vom gegenьberliegenden Ufer der Donau kamen Rumдnen. [...] Es gab, vereinzelt, auch Russen."18 Und dann: "Die ьbrige Welt hieЯ dort Europa, und wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fдhrt nach Europa, Europa begann dort, wo das tьrkische Reich einmal geendet hatte."19 Bulgarisch lernte Canetti mit den Bauernmдdchen, die bei ihnen im Haus lebten und zu seinen frьhesten Spielgefдhrten wurden. Von ihnen hцrte er die ersten Geschichten von Menschen und Tieren, die ihn tief beeindruckten; die Bauernmдdchen erzдhlten ihm bulgarische Volksmдrchen, in denen Wцlfe, Werwцlfe und Vampire vorkamen, die seine Phantasie zuerst erfьllten.20 Nach Jahren notierte Canetti: "Ich kann kein Buch mit Balkanmдrchen in die Hand nehmen, ohne manche von ihnen auf der Stelle zu erkennen. Sie sind mir in allen Einzelheiten gegenwдrtig [...]."21 Unter den Dienern, die man im Hause hatte, gab es Leute verschiedener Nationalitдten, z.B. einen Tscherkessen, spдter einen Armenier. Die beste Freundin der Mutter war eine Russin. Einmal wцchentlich zogen Zigeuner in ihren Hof, die den Jungen mit Furcht und Bewunderung erfьllten. Rustschuk war ein alter Donauhafen und hatte als solcher Menschen von ьberall angezogen. Von der Donau war in der Familie, aber auch auf dem Hof, immerwдhrend die Rede. Man erzдhlte Geschichten ьber die besonderen Jahre, in denen die Donau zufror; von Schlittenfahrten ьber das Eis nach Rumдnien hinьber; von hungrigen Wцlfen, die hinter den Pferden der Schlitten her waren. Spдter erinnerte sich Canetti: "Als Kind hatte ich keinen Ьberblick ьber diese Vielfalt, aber ich bekam unaufhцrlich ihre Wirkung zu spьren."22 Und dann: "Es wird mir schwerlich gelingen, von der Farbigkeit dieser frьhen Jahre in Rustschuk, von seinen Passionen und Schrecken eine Vorstellung zu geben."23 So kann einerseits festgestellt werden, daЯ die Beziehungen der Familie Canetti zu Цsterreich schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts aufkeimten. Anderseits aber erlebte Elias Canetti selbst im alten bulgarischen Rustschuk eine Welt, die durch ihre verhдngnisvollen Ereignisse mit der Zeit fьr ihn an Bedeutung gewann und die Hauptmotive seines Werkes bestimmen sollte. Welche sind sie? DER WELTUNTERGANG Als Canetti etwa fьnf Jahre alt war, erschien der groЯe Halley'sche Komet. Ganz Rustschuk geriet in schreckliche Aufregung, alle sprachen vom Kometen, bevor man ihn sah, der Junge hцrte, das Ende der Welt sei gekommen. "Ich stellte mir nichts darunter vor", notierte Canetti, "wohl aber merkte ich, daЯ die Leute verдndert waren, zu flьstern begannen, wenn ich in die Nдhe kam und mich mitleidig ansahen. Die bulgarischen Mдdchen flьsterten nicht, sie sagten es alles heraus und von ihnen erfuhr ich, auf ihre derbe Art, daЯ das Ende der Welt gekommen sei. Es war der allgemeine Glaube in der Stadt und er muЯ eine Weile vorgeherrscht haben, da es sich mir, ohne daЯ ich mich selbst vor etwas Bestimmten fьrchtete, so tief einprдgte. [...] Eines Nachts hieЯ es, jetzt sei der Komet da und jetzt werde er auf die Erde fallen. Ich wurde nicht schlafen geschickt, ich hцrte jemand sagen, das hдtte jetzt keinen Sinn, die Kinder sollten auch in den Garten kommen."24 In einem spдteren Interview erzдhlte Canetti weiter: "Es herrschte eine mittelalterliche Weltuntergangsstimmung. Diese Vorstellung, daЯ die Welt nun untergehen wьrde, weil da so ein ungeheuerer Komet am Himmel stand, der - als ich ihn sah - ein Viertel des Himmels bedeckte, hat sogar meine Eltern erfaЯt, die aufgeklдrte Menschen waren. [...] Und ich glaube, daЯ mein Sinn fьr Apokalyptisches, fьr drohenden Untergang, durch dieses Erlebnis stark mitbestimmt wurde."25 Das Empfinden fьr Apokalyptisches und Untergang, das im alten Rustschuk aufkeimte, fand einen kьnstlerischen Ausdruck zwanzig Jahre spдter in Wien. Im letzten Teil der Lebensgeschichte "Das Augenspiel" schildert Canetti die seelische Verfassung, die ihn im Winter 1931 zum Thema des Weltuntergangs zurьckgebracht hatte: "Der Untergang war nun in mir angelegt und ich kam nicht von ihm los. Durch die "Letzten Tage der Menschheit" hatte er sich seit sieben Jahren schon vorgeprдgt. Aber jetzt hatte er eine sehr persцnliche Form angenommen, die den Konstanten meines eigenen Lebens entsprang. [...] Die Bedrohung der Welt, in der man sich fand, empfand ich nie stдrker als damals. [...] Jedes Gesprдch, von dem ich im Vorbeigehen Teile hцrte, schien ein letztes. [...] Aber es hing auf das engste mit den Bedrohten selbst zusammen, was ihnen geschah. Sie hatten sich in die Situation gebracht, aus der es kein Entrinnen gab. Sie hatten sich die besondere und absonderlichste Mьhe gegeben, so zu sein, daЯ sie ihren Untergang verdienten."26 In seinem Studentenzimmer in Hacking verfaЯte der 26-jдhrige Canetti das Drama "Hochzeit", schrieb "in besessener Eile" Szene um Szene, und jede fьhrte zum Untergang. Die Figuren wurden von ihm angeprangert und ьber alle Szenen hielt er seine "Peitsche". "Es war wie ein Strafgericht, das alles einbezog, und am schwersten gestraft war der, der es sich ьber die anderen anmaЯte"27, notierte spдter Canetti. Er stellte eine Hochzeitsfeier wie einen Totentanz dar. Ein Erdbeben, das zunдchst als Gesellschaftsspiel von den betrunkenen Gдsten inszeniert wurde, ist plцtzlich Wirklichkeit. Nun erst erlebt man, was jeder in einem solchen Fall tatsдchlich tдte. Selbstsucht und Gier gewinnen die endgьltige Herrschaft. Das Haus, um das alle werben, bricht schlieЯlich zusammen und zieht alle mit in den Abgrund. Der letzte Laut, den man im Finsteren vernimmt, ist der eines Papageis: "Haus. Haus. Haus." Das hцrt sich wie "Chaos. Chaos. Chaos." an, kann aber fьr "Welt. Welt. Welt." stehen. Uraufgefьhrt wurde das Stьck erst mehr als dreiЯig Jahre spдter im November 1965, und zwar wieder in Braunschweig und wurde wieder von einem Theaterskandal begleitet, der zu einer Strafanzeige "wegen Erregung geschlechtlichen Дrgernisses" fьhrte. Einer der Verteidiger des Stьckes, der Philosoph Theodor Adorno, bemerkte nach der Auffьhrung: "Das [...] Stьck, das allein schon als ein literarhistorisches Mittelglied zwischen dem damals abgeklungenen Expressionismus und dem gegenwдrtigen absurden Theater grцЯtes Interesse verdient, ist [...] von einer fast moralisierenden, im ьbrigen gдnzlich unzweideutig hervortretenden Absicht."28 Mit dem ersten Drama schuf Elias Canetti eine beklemmende Vision einer sich selbst zerstцrenden Gesellschaft, die er in Wien nach dem Sturz der alten Monarchie vorgefunden zu haben glaubte. Er verfaЯte sein Drama unter dem EinfluЯ von Karl Kraus, George Grosz und Bьchner, doch spьrte er den Stachel seines Sinns fьr Apokalyptisches, der durch die frьhen Erlebnisse im bulgarischen Heimatort einst entwickelt wurde. DAS FEUER Im alten Rustschuk erlebte der Schriftsteller den ersten groЯen Brand in seinem Leben, und dieses Ereignis beeindruckte ihn tief. Canetti erinnert sich: "Eines Tages war der Gartenhof voller Rauch, einige unserer Mдdchen liefen auf die StraЯe und kamen bald aufgeregt zurьck, mit der Nachricht, daЯ ein Haus in der Nachbarschaft brenne. Es stehe schon ganz in Flammen, es brenne ganz herunter. Gleich leerten sich die drei Hдuser um unseren Hof und mit Ausnahme der GroЯmutter [...] rannten alle Bewohner hinaus in die Richtung des Feuers. [...] Ich lief also zum offenen Hoftor hinaus auf die StraЯe, die mir verboten war, und geriet in den eiligen Strom der Menschen. [...] Da sah ich zum erstenmal ein brennendes Haus. Es war schon weit heruntergebrannt, Balken stьrzten ein und Funken sprьhten. Es ging gegen Abend, es wurde allmдhlich dunkel und das Feuer schien immer heller. Aber was mir weit mehr Eindruck machte als das brennende Haus, waren die Menschen, die sich darum bewegten. Sie sahen klein und schwarz aus dieser Entfernung aus, es waren sehr viele und sie rannten alle durcheinander. Manche blieben in der Nдhe des Hauses, manche entfernten sich und diese trugen alle etwas auf dem Rьcken. "Diebe!" sagten die Mдdchen, "Das sind Diebe! Sie tragen Sachen aus dem Haus fort, bevor man sie erwischt!" [...] Dieser Anblick, der mir unvergeЯlich blieb, ist mir spдter in die Bilder eines Malers aufgegangen, so daЯ ich nicht mehr sagen kцnnte, was ursprьnglich war und was von ihnen dazu kam. Ich war neunzehn, als ich in Wien vor den Bildern Brueghels stand. Ich erkannte auf der Stelle die vielen kleinen Menschen jenes Feuers aus der Kindheit. Die Bilder waren mir so vertraut, als hдtte ich mich immer unter ihnen bewegt. [...] Der Teil meines Lebens, der mit jenem Feuer begann, setzte sich unmittelbar in diesen Bildern fort, als wдren keine fьnfzehn Jahre dazwischen gelegen. Brueghel ist mir der wichtigste Maler geworden, aber ich habe ihn mir nicht wie vieles spдter durch Betrachtung oder Nachdenken erworben. Ich habe ihn in mir vorgefunden, als hдtte er schon lange, sicher, daЯ ich zu ihm kommen mьsse, auf mich gewartet."29 Als Elias Canetti am 15. Juni 1927 den Brand des Justizpalastes in Wien beobachtete, war er zu diesem Ereignis durch das Feuer-Erlebnis in Rustschuk innerlich bereits vorgeprдgt. Wenige Jahre spдter, als Canetti den Plan eines Romans entwarf, gab er dem Protagonisten zuerst den Namen Brand. Das fertige Manuskript trug den Titel "Kant fдngt Feuer", und als das Buch erscheinen sollte, gab Canetti dem Roman den Titel, den er seither trдgt: "Die Blendung". Es ist die Geschichte eines isolierten Bьchermenschen, eines Sinologen von Beruf, der eine vulkanisch unsichere Existenz fьhrt, zum SchluЯ Feuer an seine riesengroЯe Bibliothek legt und in den apokalyptischen Flammen, mit seinen Bьchern auf immer vereint, selbst zugrunde geht. Nach dem Erscheinen der "Blendung" Ende 1935 in Wien schrieb Thomas Mann in einem Brief an den jungen Autor: "Ich bin tief angetan vom Reichtum dieses Romans, von dem Debordierenden seiner Phantasie, der gewissen erbitterten GroЯartigkeit seines Wurfes, seinem kьnstlerischen Mut, der tiefen Trauer und stolzen Kьhnheit."30 Hermann Broch sprach von der "abstrakten Seelenlandschaft dieser Dichtung" und von einem "Aufbau der Gestalt aus der Logik ihres Seins, die gleichzeitig die ьbergeordnete Logik der Gesamtheit ist und von dieser ihre unverbrьchliche und feste Lebensgeltung erfдhrt."31 Im Schicksal der Hauptfigur des Romans erblickte die Kritik eine "mдchtige Metapher fьr den Untergang des zivilisierten Europa".32 Wenn man bedenkt, daЯ nur vier Jahre nach der Verцffentlichung des Buchs der Zweite Weltkrieg ausbrach, der auch eine Zerstцrung der Kultur brachte, erwies sich diese Einschдtzung als richtig und die kьnstlerischen Visionen Canettis wurden zu einer bitteren Prophezeiung. Das letzte Werk der Wiener Periode, das Canetti unter dem Eindruck der Machtergreifung durch Hitler in Deutschland schrieb, war die "Komцdie der Eitelkeit". Dargestellt werden die Folgen eines staatlichen Ediktes, das die Zerstцrung aller Spiegel, aller Photographien und Bildnisse von Menschen befiehlt und hohe Strafen auf ihren Besitz setzt. Der erste Teil der Komцdie ist eine Art Jahrmarkt, der in einzelnen Zьgen den alten Wiener Wurstelprater heraufbeschwцrt. Die Menschen schleppen die neuverbotenen Gegenstдnde herbei. In einer SchieЯbude zerstцren sie mit eigener Hand ihre Spiegel; die Photographien aber kommen alle in ein mдchtiges Feuer, das den Mittelpunkt des Jahrmarkts bildet. Fьnf Jahrzehnte spдter bemerkte Canetti in seinem Buch "Das Augenspiel" dazu: "Mehr und mehr bezieht sich alles auf das Feuer; erst aus der Ferne, dann nдher und nдher, bis eine Figur schlieЯlich selbst zum Feuer wird, indem sie sich hineinstьrzt. Die Besessenheit jener Wochen fьhle ich heute noch in den Knochen. Es war eine Hitze in mir, als wдre ich diese Figur, die zu Feuer wird."33 Und dann: "Alle Feuer, die mich von Kind an beeindruckt hatten, sind in das Feuer der Bilderverbrennung eingegangen."34 Im Jahre 1962 schrieb Erich Fried, ohne von Canettis Erlebnissen im alten Rustschuk und von seinen Passionen gewuЯt zu haben, zum Inhalt der "Komцdie der Eitelkeit": "[...] die Charaktere des Stьckes stellen sich wдhrend des Zerstцrungsaktes vor. Die Art dieser Charaktere und der Aufbau des ersten Teiles erinnern an eines der groЯen Bilder von Breughel."35 DIE MASSE Sein erstes Massen-Erlebnis hatte der Schriftsteller auch im alten Rustschuk; da sah er zum ersten Mal groЯe Menschenmengen, die sein Interesse fьrs ganze Leben gewinnen sollten. Jeden Freitag kamen Zigeuner in den Hof seines Vaterhauses. Der Junge war von panischem Schrecken vor ihnen erfьllt, denn die bulgarischen Mдdchen im Haus hatten ihm erzдhlt, die Zigeuner stдhlen Kinder, und er war ьberzeugt davon, daЯ sie es auf ihn abgesehen hдtten. Trotz dieser Angst aber konnte er sich ihren prдchtigen Anblick nicht entgehen lassen. Nach Jahren erinnerte sich Canetti: "Sie kamen wie ein ganzer Stamm, in der Mitte hoch aufgerichtet ein blinder Patriarch, der UrgroЯvater, wie man mir sagte, ein schцner, weiЯhaariger alter Mann [...]. Der ganze Aufzug hatte etwas unheimlich Dichtes, so viele Menschen, die sich bei ihrer Fortbewegung nah beisammen hielten, bekam ich sonst nie zu Gesicht; und es war auch in dieser sehr farbigen Stadt das Farbigste [...]. Mir kamen diese Zigeuner wie etwas Zahlloses vor, [...] immerhin hatte ich noch nie so viele Menschen im groЯen Hof gesehen [...], ich war besessen von ihnen [...]."36 Einen starken Massen-Eindruck bekam Canetti auch beim Erscheinen des Halley'schen Kometen ьber Rustschuk. Alle Kinder aus den drei Familienhдusern und der Nachbarschaft standen zwischen den vielen Menschen im Gartenhof herum und alle, Erwachsene wie Kinder, starrten zum Himmel hinauf. "Es dauerte sehr lange", notierte Canetti spдter, "niemand wurde es mьde und die Menschen standen weiter dicht beisammen. Ich sehe weder Vater noch Mutter dabei, ich sehe niemand von denen, die mein Leben ausmachten, vereinzelt. Ich sehe sie nur alle zusammen, und wenn ich das Wort nicht spдter so hдufig gebraucht hдtte, wьrde ich sagen, ich sehe sie als Masse: eine stockende Masse der Erwartung."37 Die Masse erlebte Canetti auch beim Brand des Hauses in der Nдhe. In einem Interview дuЯerte er sich 1972 dazu: "Da sah ich zum ersten Mal eine Unzahl von Menschen um ein brennendes Haus versammelt und habe den Zusammenhang von Feuer und Masse gespьrt, ohne zu wissen, was das bedeutet."38 Als Canettis Familie 1911 nach Manchester ьbersiedelte, war der Sechsjдhrige zur Aufnahme von Massen-Eindrьcken schon im Heimatort vorbereitet. In England sollte der Junge die Massenerregung infolge des Untergangs des Ozeandampfers "Titanic" erleben. "Man ging auf die StraЯe", erzдhlte spдter Canetti, "und ich erlebte nun zum ersten Mal, daЯ wildfremde Leute, die nie miteinander sprachen, auf der StraЯe beisammenstanden, andere kamen dazu; es bildeten sich Gruppen. Also das, was man vielleicht heftiger erlebt, wenn eine Masse entsteht, wenn Leute von ьberall zusammenstrцmen, das war schon im Ansatz da."39 Дhnliche Massen-Eindrьcke hatte Canetti dann in Wien 1914 beim Ausbruch des Weltkrieges, als er die Begeisterung in der kaiserlich-kцniglichen Hauptstadt miterlebte. "Da waren die StraЯen, die Plдtze alle voll von singenden Menschen, man sah ьberhaupt nur volle StraЯen. Es war eine glьckliche, jubelnde Masse [...]. Und ich weiЯ nicht, ob es Trotz war oder vielleicht auch eine kindliche Ahnungslosigkeit, ich glaube, es war eine Art Trotz, daЯ ich, als man Heil dir im Siegerkranz nach einer solchen Kriegserklдrung laut deutsch sang, [...] plцtzlich mit voller Stimme mit meinen beiden kleinen Brьdern God save the King zu singen begann. Da erlebte ich nun eine andere Art von Masse. Obwohl wir neun, fьnf und drei Jahre alt waren, gingen die Leute auf uns los und wir wurden regelrecht verprьgelt."40 Nach dem Krieg und dem Sturz der Monarchie lebte Canetti drei Jahre in Frankfurt, wo er das Realgymnasium besuchte. Das war die Zeit der Inflation, da sah er zum ersten Mal Arbeiterdemonstrationen und fьhlte sich sehr von ihnen angezogen. Es war nach der Ermordung des deutschen AuЯenministers Walter Rathenau im Jahre 1922. "Ich spьrte", sagte Canetti spдter, "eine physische Anziehung zu der Masse hin. Das hat einige Jahre nachgewirkt, und ich glaube, der EntschluЯ, herauszubekommen, was Masse eigentlich ist, war akut auf diese Erlebnisse in Frankfurt zurьckzufьhren."41 1924 bezog Canetti die Universitдt in Wien. Er besuchte die Vorlesungen von Karl Kraus und verbrachte die Abende mit Schreiben. Als er etwas ьber 20 Jahre alt war, kam ihm eines Tages der erste Gedanke zu einem Werk ьber die Masse. "Es war wie eine Erleuchtung. Ich beschloЯ, mein Leben der Erforschung der Masse zu widmen. Ich war von diesem Gedanken wie besessen, nichts vermochte mich davon abzubringen. Mit List und Zдhigkeit, gegen den Widerstand aller, die anderes von mir erwarteten, hielt ich daran fest."42 Das grцЯte дuЯere Erlebnis in dieser Richtung war fьr Canetti der 15. Juli 1927, der Tag, an dem der Wiener Justizpalast in Flammen aufging. Das Gebдude wurde nach einem Fehlurteil von den Arbeitern in Brand gesteckt. Die Polizei schoЯ auf sie, es gab 90 Tote. Canetti, der dabei war, erinnerte sich nach Jahren: "Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spьrte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm."43 Die Anziehungskraft der Masse hatte Elias Canetti noch im alten Rustschuk, in der Kindheit, empfunden. Nun, zwei Jahrzehnte danach, machte er es sich zur Aufgabe, herauszufinden, was Masse ist und ein Buch darьber zu schreiben. DIE MACHT In seinen frьhen Jahren in Rustschuk lernte der Schriftsteller auch die Faszination und die Tyrannei der Macht kennen. Sie wurde durch die Person seines GroЯvaters, des alten Elias Canetti, verkцrpert. Er war ein Selfmademan, der sich heraufgearbeitet hatte; von einem "betrogenen Waisenkind", das jung auf die StraЯe in Adrianopel gesetzt wurde, hatte er es zu beachtlichem Wohlstand gebracht.44 In seinem GroЯgeschдft in Rustschuk fьhrte er "ein strenges Regiment"; sein Bruder Tschelebon, den der kleine Canetti besonders gern hatte, war aus Mitleid als Diener beschдftigt.45 Der GroЯvater war "wo immer er erschien, sofort im Mittelpunkt, in seiner Familie gefьrchtet, ein Tyrann, der heiЯe Trдnen weinen konnte, wenn es ihm behagte, am behaglichsten fьhlte er sich in Gesellschaft der Enkel, die seinen Namen trugen. Unter Freunden und Bekannten, ja in der ganzen Gemeinde, war er fьr seine schцne Stimme beliebt, der besonders Frauen erlagen. Wenn er eingeladen war, nahm er die GroЯmutter nicht mit, ihre Dummheit und ihr ewiges Gejammer waren ihm lдstig. Da war er dann immer bald von einem groЯen Kreis umringt, erzдhlte Geschichten, in denen er viele Rollen spielte, und bei besonderen Gelegenheiten lieЯ er sich erbitten zu singen."46 So waren alle Menschen in der Spaniolen-Gemeinde im alten Rustschuk dem GroЯvater Canetti verfallen47, der stolz auf seine Herkunft war und auch im Ausland den Namen seiner Stadt mit feurigem Nachdruck aussprach - da war sein Geschдft, das Zentrum seiner Welt, da waren die Hдuser, die er mit wachsendem Wohlstand erworben hatte.48 In der Familie aber wuchs die Rebellion gegen den Haustyrannen; als der jьngste Bruder des Schriftstellers zur Welt gekommen war, wurde er gegen den Wunsch des GroЯvaters nach dem neuen Kцnig von England Georg genannt und die Wahl dieses anstatt eines biblischen Namens war eine offene Kriegserklдrung an den Familiendiktator. Canetti notierte dazu: "Zwei Brьder der Mutter hatten in Manchester ein Geschдft gegrьndet, das rasch florierte, der eine von ihnen war plцtzlich gestorben, der andere bot meinem Vater an, als sein Kompagnon zu ihm nach England zu kommen. Fьr die Eltern war das eine erwьnschte Gelegenheit, sich von Rustschuk, das ihnen zu eng und zu orientalisch war, und von der noch viel beengenderen Tyrannei des GroЯvaters zu befreien. Sie sagten auf der Stelle zu, aber die Sache war leichter gesagt als getan, denn nun begann ein erbitterter Kampf zwischen ihnen und dem GroЯvater, der um keinen Preis einen seiner Sцhne hergeben wollte [...]. Den Vater, der noch ins Geschдft muЯte, ьberfiel er mit seinem Zorn, der schrecklich war und von Woche zu Woche schrecklicher wurde. Als er sah, daЯ er nichts ausrichten konnte, wenige Tage vor der Abreise, verfluchte er ihn feierlich im Gartenhof, seinen Sohn, vor den anwesenden Verwandten, die entsetzt zuhцrten. Ich hцrte sie, wie sie untereinander darьber sprachen: nichts gдbe es, sagten sie, das furchtbarer sei, als einen Vater, der seinen Sohn verfluche."49 Damals noch, nach dem plцtzlichem Tod des Vaters in Manchester, gerade am Tag des Ausbruchs des ersten Balkankrieges im Oktober 1912, glaubte der Junge, sein Vater sei durch diesen Fluch getцtet worden, und er haЯte schon die grausame Macht des GroЯvaters, der seinen Sohn ьberlebte.50 Spдter, nach der Beendigung des Studiums in Wien, als andere Mдchte in Europa im Aufsteigen waren, fьhlte sich Elias Canetti "vom Gedanken besessen zu begreifen, was denn Macht eigentlich sei"51. Um 1931 erkannte er "nach einem heftigen ZusammenstoЯ mit den Cдsarenbiographien des Sueton"52, daЯ das Buch ьber "Die Masse", das er schreiben wollte, ohne eine ergдnzende Studie der Macht wertlos bleiben mьЯte, und erweiterte seinen Plan. Nach Hitlers Einmarsch in Wien 1938 ьbersiedelte Canetti nach London und hier wandte er seine ganze Kraft einem Werk zu, das die groЯe Arbeit seines Lebens werden sollte, der Untersuchung von "Masse und Macht", die ihm vier Jahrzehnte spдter den Nobelpreis fьr Literatur brachte. * * * "Der Weltuntergang", "Das Feuer", "Die Masse", "Die Macht" - dies sind vier Hauptmotive im Gesamtwerk von Elias Canetti. Die Beweggrьnde zu diesen Motiven entstanden alle im alten Rustschuk, der kleinen bulgarischen Donaustadt um die Jahrhundertwende. Sie bildeten jene sehr bunte, reiche "Provinz des Menschen", erfьllt von Liebe und Eifersucht, Egoismus und Mut, Zдrtlichkeit und Angst, in der Canetti aufwuchs und seine ersten, schicksalstrдchtigen Erlebnisse hatte. Hier entwickelte er seine Neugier und seine Empцrung, seinen Stolz und sein Erbarmen, die Begeisterung fьr das Weltgeschehen und die Raschheit im Erfassen - lauter Eigenschaften, die er spдter als Schriftsteller benutzten konnte. Im bulgarischen Heimatort lernte Canetti, daЯ der einfachste, der dьmmste oder der schlechteste Mensch einen so nah angehen und faszinieren mьsse wie der komplizierteste, der klьgste oder der beste. Hier gewцhnte er sich daran, miЯtrauisch und vertrauensvoll zu sein, beide Haltungen auf die Spitze zu treiben und alles mit Passion aufzunehmen. In Rustschuk keimte in ihm eine Eigenschaft, die er nach Jahren fьr die wichtigste eines Schriftstellers hielt, "nдmlich das Bedьrfnis fьr alles, was man empfangen hat und was die geistige Substanz ausmacht, etwas zu hinterlassen, das gut genug ist, um zu dauern und zur Substanz spдterer Menschen zu werden".53 In der Kindheit noch entwickelte Canetti seine Begabung zur Verwandlung, so daЯ er spдter sagen konnte: "[...] seit meinem zehnten Lebensjahr ist es eine Art Glaubenssatz von mir, daЯ ich aus vielen Personen bestehe, deren ich mir keineswegs bewuЯt bin [...]. Sie waren das Brot und das Salz der frьhen Jahre. Sie sind das eigentliche, das verborgene Leben meines Geistes."54 Ist dies alles aber ein ausreichender Grund dafьr, daЯ man Elias Canetti fьr einen bulgarischen Schriftsteller hдlt? Kaum. Dazu hat der Autor selbst einmal Stellung genommen. Vor der Wiener Erstauffьhrung von "Komцdie der Eitelkeit" (1979) erklдrte Canetti im Interview, das eine bulgarische Journalistin mit ihm fьhrte: "Ich bin allerdings kein Цsterreicher. Meine Eltern sind spaniolische Juden, geboren bin ich in Rustschuk, Bulgarien. Ich habe in vielen Lдndern Europas gelebt, nun lebe ich in London und Zьrich, halte mich jedoch fьr einen цsterreichischen Schriftsteller, denn die Figuren meiner Werke sind meistens Wiener und sogar der Wiener Dialekt ьberwiegt in meinen Theaterstьcken."55 Am 18. Februar 1992 konnte ich als sein bulgarischer Ьbersetzer Elias Canetti in seiner Zьricher Wohnung am Rцmer Hof besuchen. Der bald 87jдhrige vielgewьrdigte Nobelpreistrдger mied die Цffentlichkeit und hatte seit zwanzig Jahren kein Interview mehr gegeben. Er bereitete eben seine nдchste Sammlung mit Aufzeichnungen zur Publikation vor und edierte die Bьcher seiner 1963 verstorbenen Frau Veza Canetti. Aus der zugesprochenen einen Stunde seiner kostbaren Zeit wurde ein sechsstьndiges Gesprдch ьber Menschen und Stдdte, ьber Literatur und Mythen, ьber Landschaften und Vogelarten, vor allem aber ьber Bulgarien und den Heimatort. Auf meine Frage, ob er nicht gedenke, einmal nach Rustschuk zurьckzukommen, gab Elias Canetti die Antwort: "Fьr jeden Menschen gibt es etwas Heiliges - nicht im religiцsen Sinne, ich bin Atheist, sondern als Substanz, als Kern des Daseins. Meine Geburtsstadt ist fьr mich dieses Heilige, das ich als ein sehr festes Bild immer im BewuЯtsein trage. Ich habe Angst, wenn ich nach Rustschuk zurьckkдme, nach so vielen Jahren, dieses heilige Bild verдndert vorzufinden. Das ist, was mir die Lust an einer Rьckreise, vielleicht die Donau hinunter, wegnimmt."56 * * * Die Zugehцrigkeit Elias Canettis zur цsterreichischen Literatur erschlieЯt sich also in der Wechselbeziehung zwischen den frьhen Erlebnissen im "heiligen" bulgarischen Heimatort Rustschuk und den spдteren sozialen und kьnstlerischen Erfahrungen im Wien der Zwischenkriegszeit.
ANMERKUNGEN 1. Der Romanfьhrer, hrsg. v. Johannes Beer, Bd. 14, Stuttgart 1969, S. 458-459 [back] 2. Luciano Zagari: "Epik und Utopie. Elias Canettis Die Provinz des Menschen", in: Literatur und Kritik, 1979, H. 136-137, S. 423 [back] 3. Erich Fried: "Das Werk Elias Canettis", in: Elias Canetti, Welt im Kopf, Graz 1962, S. 7-8 [back] 4. Herbert Zand: "Stimmen unsere MaЯstдbe noch? Versuch ьber Elias Canetti", in: Literatur und Kritik, 1968, H. 21, S. 37 [back] 5. Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, Mьnchen 1977, S. 10-11 [back] 6. Ibidem, S. 19 [back] 7. Vgl. dazu Elias Canetti: "Unsichtbarer Kristall", in: Literatur und Kritik, 1968, H. 22, S. 65 [back] 8. Vgl. dazu Roberto Corcoll Calsat: "Elias Canetti und Spanien", in: Hьter der Verwandlung. Beitrдge zum Werk von Elias Canetti, Mьnchen 1985, S. 114-120 [back] 9. "Gesprдch mit Joachim Schickel", in: Elias Canetti, Die gespaltene Zukunft, Mьnchen 1972, S. 106-107 [back] 10. Vgl. dazu Salvator Israel: "Zur Familie und zu den Verwandtschaften von Elias Canetti" (bulg.), in: Ewrejski westi, 24.12.1981, Nr. 24, S. 3 [back] 11. Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 14 [back] 12. Genadi Georgiew: "Im Geburtsort Elias Canettis", in: Bulgarien heute, 1982, H. 3, S. 26 [back] 13. Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 62 [back] 14. Ibidem, S. 322 [back] 15. Ibidem, S. 37 [back] 16. Vgl. Salvator Israel, op. cit., S. 3 [back] 17. Vgl. dazu Wassil Doikow: "Welches ist das Geburtshaus von Elias Canetti?" (bulg.), in: Otetschestwen front, 13.5.1982, Nr. 11354, S. 4 [back] 18. Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 10 [back] 19. Ibidem, S. 11 [back] 20. Ibidem, S. 17-18 [back] 21. Ibidem, S. 18 [back] 22. Ibidem, S. 10 [back] 23. Ibidem, S. 11 [back] 24. Ibidem, S. 33-34 [back] 25. Rupprecht Slavko Baur: "Gesprдch mit Elias Canetti", in: Literatur und Kritik, 1972, H. 65, S. 273 [back] 26. Elias Canetti, Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937, Mьnchen 1985, S. 9-10 [back] 27. Ibidem, S. 11 [back] 28. Zitiert nach Manfred Durzak: "Elias Canettis Weg ins Exil. Vom Dialektstьck zur philosophischen Parabel", in: Literatur und Kritik, 1976, H. 108, S. 460 [back] 29. Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 39-40 [back] 30. Thomas Mann, Briefe (Oktober 1935) [back] 31. Zitiert nach Erich Fried, op. cit., S. 10 [back] 32. Zitiert nach Manfred Durzak: "Versuch ьber Elias Canetti", in: Akzente, 1970, H. 2, S. 187 [back] 33. Das Augenspiel, a.a.O., S. 101 [back] 34. Ibidem, S. 102 [back] 35. Erich Fried, op. cit., S. 16 [back] 36. Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 22-23 [back] 37. Ibidem, S. 35 [back] 38. "Gesprдch mit Joachim Schickel", a.a.O., S. 107 [back] 39. Ibidem, S. 109 [back] 40. Ibidem, S. 110-111 [back] 41. Ibidem, S. 112 [back] 42. Zitiert nach Erich Fried, op. cit., S. 19 [back] 43. Elias Canetti: "Das erste Buch: Die Blendung", in: Canetti lesen. Erfahrungen mit seinen Bьchern, hrsg, v. Herbert G. Gцpfert, Mьnchen 1975, S. 127 [back] 44. Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 37 [back] 45. Ibidem, S. 15 [back] 46. Ibidem, S. 28 [back] 47. Ibidem, S. 30 [back] 48. Ibidem, S. 138 [back] 49. Ibidem, S. 50-51 [back] 50. Ibidem, S. 90 [back] 51. Elias Canetti: "Unsichtbarer Kristall", a.a.O., S. 67 [back] 52. Zitiert nach Erich Fried, op. cit., S. 19 [back] 53. "Gesprдch mit Horst Bienek", in: Elias Canetti, Die gespaltene Zukunft, a.a.O., S. 127 [back] 54. Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 127 [back] 55. Iwajla Wвlkowa: "Komцdie der Eitelkeit - eine Erstauffьhrung nach 45 Jahren. Gesprдch mit Elias Canetti" (bulg.), in: Literaturen front, 18.10.1979, Nr. 42, S. 8 [back] 56. Gesprдch mit dem Verf. vom 18.2.1992 (unverцffentlicht) [back]
© Wenzeslav Konstantinov Publication: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift fьr Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr. 3, 1996. S.15-21.
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