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AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN IDENTITДT.
BULGARISCHE LITERATUR IM UMBRUCH

Wenzeslav Konstantinov

web

In seiner Autobiographie "Die gerettete Zunge" schrieb Elias Canetti ьber den Heimatort: "Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt fьr ein Kind, und wenn ich sage, daЯ sie in Bulgarien liegt, gebe ich eine unzulдngliche Vorstellung von ihr, denn es lebten dort Menschen der verschiedensten Herkunft, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hцren. AuЯer den Bulgaren, die oft vom Lande kamen, gab es noch viele Tьrken, die ein eigenes Viertel bewohnten, und an dieses angrenzend lag das Viertel der Spaniolen, das unsere. Es gab Griechen, Albaneser, Armenier, Zigeuner. Vom gegenьberliegenden Ufer der Donau kamen Rumдnen... Es gab, vereinzelt, auch Russen." Und dann: "Die ьbrige Welt hieЯ dort Europa, und wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fдhrt nach Europa, Europa begann dort, wo das tьrkische Reich einmal geendet hatte."

Mit der Beschreibung der bulgarischen Donaustadt gibt Elias Canetti ein ziemlich genaues Bild von der ethnischen und gesellschaftlichen Struktur des Landes um die Jahrhundertwende. An einem geographischen und kulturellen Scheideweg auf dem Balkan liegend, wurde Bulgarien in seinem geschichtlichen Werdegang vom sprach- und konfessionsverwandten RuЯland immer nach dem orthodoxen Orient gezogen, doch innerlich strebte es nach dem verruchten Westen, nach Europa und dem zivilisierten Abendland. In diesem Spannungsfeld zwischen цstlicher vita contemplativa und westlicher vita activa entfaltete sich die geistige Kultur Bulgariens.

Ьber die WasserstraЯen des Schwarzen Meers und der Donau konnte der wissbegierige Bulgare schon im 19. Jahrhundert sowohl Odessa als auch Wien erreichen - und von Wien war es nur noch ein kurzer Weg nach Deutschland, der Schweiz, Italien und Frankreich. So konnte mein GroЯvater um das Fin de siиcle Philosophie in Jena und Zьrich studieren - durch ihn erfuhr ich zum ersten Mal von dem Geschichtsprofessor Friedrich Schiller und vom ApfelschuЯ. Mein Vater erlernte Musiktheorie in Dresden und Leipzig in den 30er Jahren - er erzдhlte mir von Auerbachs Keller: "Mein Leipzig lob ich mir. Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute", pflegte er mit Goethe zu sagen. Meine Mutter dagegen liebte Dьsseldorf und den ruhig flieЯenden Rhein - sie sang und spielte gern Lieder nach Heines Texten: "Ich weiЯ nicht was soll es bedeuten, daЯ ich so traurig bin", bekam ich oft zu hцren, obwohl sie selten traurig war. Also - um beim deutschen Beispiel zu bleiben - Wilhelm Tell, Faust und Lorelei: sie waren Sinnbilder europдischer Kultur. Europa war ein Traum fьr die, die es noch nicht kannten, und ein Vorbild fьr jene, die dort bereits studiert oder gar gelebt hatten.

Ich selbst konnte Europa nicht einmal kennenlernen, geschweige denn dort studieren. Meine Generation muЯte in einem kommunistischen Bulgarien leben und weben. Dies bedeutete fьr mich ein unbefristetes Publikations- und Reiseverbot, denn ich entstammte einer demokratisch gesinnten Familie, ьbersetzte in meiner "Weltflucht" Kafka, Hesse, Frisch, Dьrrenmatt, Bцll, Enzensberger - lauter unerwьnschte "bьrgerliche" Autoren - und es hatte seine Folgen: der Traum von Europa wurde zum Trauma und Alptraum. Erst spдter entdeckte ich bei Ernst Bloch einen Satz, der mir und meiner Generation zu gelten schien: "Wird eine Zeit als schlechthin feindlich empfunden und scheint dem Menschen, der sich als hцher vorkommt, kein Platz in ihr zu sein, dann entsteht Einsamkeit als Glьck der Flucht, als Asyl."

 

IM ZEICHEN DER ENTMЬNDIGUNG

Das literarische Leben Bulgariens seit dem Erlangen der nationalen Unabhдngigkeit im Jahre 1878 hatte sich voller Widersprьchen entfaltet. Es wurde durch die verschiedensten kulturellen Einwirkungen geprдgt und verlief sprunghaft und chaotisch, jedoch durchaus normal. Denn Bulgarien, wie auch alle Balkanlдnder, die mehrere Jahrhunderte lang unter osmanischer Herrschaft gestanden hatten, war von der geistigen Entwicklung Europas zurьckgeblieben und es gab Vieles nachzuholen. Daher bildeten sich meistens gleichzeitig mehrere Kunststrцmungen aus, die einander durchdrangen und дsthetisch befruchteten - von der national-patriotischen und sozial-revolutionдren Richtung bis zum franzцsisch geprдgten Symbolismus, russisch gefдrbten Imaginismus und dem Linksexpressionismus deutscher Prдgung. Gerade diese bunte Vielfalt, die der freien Entwicklung der kulturellen Bedьrfnisse im Lande entsprach, machte die Eigenart der neubulgarischen Literatur aus und verlieh ihr eine Identitдt im Rahmen des europдischen Ganzen.

Diese sollte allerdings nur bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bestehen.

Am 5. September 1944 erklдrte die Sowjetunion Bulgarien den Krieg und drei Tage danach marschierte die Rote Armee ins Land ein. Unter deren Schutz nahmen Partisanen die Hauptstadt ein und bildeten unverzьglich eine sogenannte "Regierung der Vaterlдndischen Front", in der die Kommunisten zunдchst zwei Jahre lang nur eine Minderheit darstellten. Um ihre Macht zu festigen, entfachten sie einen "roten Terror" nach bolschewistischem Vorbild. Verhaftet und grausam ermordet wurden etwa 140.000 Menschen - Bauer auf dem Lande, Staatsbeamte, reiche Handelsleute, Professoren, Geistliche sowie viele Kьnstler, Journalisten und Schriftsteller. Durch die Prдsenz sowjetischer Truppen unterstьtzt, zerschlugen die Kommunisten 1947 die sogenannten "konterrevolutionдren Gruppierungen" im Lande. Die Opposition wurde abgeschafft, Volksabgeordnete wurden in Schauprozessen "verurteilt" und hingerichtet.

Auf diesem Weg wurde die Bulgarische Kommunistische Partei alleinregierend, sie verwandelte sich in eine Staatspartei, die ihrerseits den Staat nach sowjetischem Modell in einen Parteistaat mit allen Merkmalen eines mittelalterlichen Kirchenstaates verwandelte. Die neue Staatsreligion hieЯ "Marxismus-Leninismus". In Bulgarien hatte sie schon vor langem FuЯ gefaЯt - ein Grund dafьr lag darin, daЯ die orthodoxe Konfession byzantinischer Prдgung, aus deren Praxis die bolschewistische Partei Lenins entstanden war, sowohl in RuЯland als auch in Bulgarien vorherrschte. Die Sprachverwandtschaft und die gemeinsame kyrillische Schrift sowie die traditionelle Russophilie der Bulgaren hatten dazu beigetragen, daЯ russische Bьcher von Volksinteligenzlern als eine Art Offenbarung aufgenommen wurden. Man glaubte an Lenin wie an einen religiцsen Propheten; und Stalin, dessen heiliges Bild in keinem proletarischen Haus fehlen durfte, war fьr die Massen der neue Messias, der allmдchtige Erlцser von den Nцten des irdischen Daseins, der alles Geschriebene zu vollbringen hatte. Es war auch ein eschatologisches Ziel da, "ein geheimnisvoll Gemeinsames in der Ferne" (so Elias Canetti in "Masse und Macht"): die kommunistische klassenlose Gesellschaft. So wurden die Partei und ihr Fьhrer, der Gensek (Generalsekretдr) sakralisiert, fьr unfehlbar und unanfechtbar erklдrt. (Ein bulgarischer Dichter, Christo Radewski (geb. 1903), widmete schon in den 20er Jahren seiner heiligen kommunistischen Partei eine Ode, in der es hieЯ: "Ich weiЯ, ich glaube, du bist sogar dann im Recht, auch wenn du sьndigst.")

Unter diesen Umstдnden begann in Bulgarien auf sowjetische Weisung "der Aufbau der Grundlagen des Sozialismus". Die Partei wollte es in absehbarer Zeit mit Hilfe der Diktatur des Proletariats erzwingen. Wдhrend des 5. Parteitags 1948 verkьndigte der Gensek Georgi Dimitroff: "Es muЯ durch die Industrialisierung und Elektrifizierung des Landes und Mechanisierung des Ackerbaus in fьnfzehn bis zwanzig Jahren das erreicht werden, was andere Lдnder unter anderen Verhдltnissen in einem ganzen Jahrhundert erreicht haben." Um dies zu verwirklichen, brauchte die Partei jedoch die uneingeschrдnkte und nachhaltige Unterstьtzung durch Kunst und insbesondere durch Literatur. Aufgrund eines fast religiцsen Glaubens an die Macht des Wortes war der frischgebackene Parteiapparatschik fest davon ьberzeugt, daЯ literarische Werke Regierungen an die Macht bringen oder sie stьrzen kцnnten. Daher wurde man als Schriftsteller in Bulgarien sehr ernst genommen. Schon 1945 hatte Dimitroff in einem Brief aus Moskau an den Bulgarischen Schriftstellerverband dessen neue Aufgaben umrissen: "Jetzt erцffnen sich vor unseren Schriftstellern die gьnstigsten Mцglichkeiten fьr ihr Schaffen. Denn unser Volk braucht eine wahrhaftige, volksverbundene Literatur wie das Brot und die Luft; es braucht eine Literatur, die zur Ergebenheit und Liebe zum Volk und zur Heimat erzieht, den HaЯ gegen den Faschismus und alle Volksfeinde entfacht sowie das Gefьhl der internationalen Solidaritдt und der ewigen Freundschaft mit unserem Befreier, dem groЯen Sowjetvolk, ausbildet."

Fьr die kommunistische Partei war also Literatur eine Waffe in ihrem Kampf gegen die "Volksfeinde" und die sogenannten "bьrgerlichen Ьberbleibsel" in der bulgarischen Gesellschaft - Literatur war die Fortsetzung ihrer Politik. Bedenkt man den Ausspruch des preussischen Generals von Clausewitz, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, kommt man zur SchluЯfolgerung, daЯ im Kommunismus Literatur und Krieg gleichgestellt wurden. Dem sozialistischen Schriftsteller galten demnach nicht Kunst-, sondern Kriegsregeln; er konnte kein freier Schaffender mehr sein, sondern bloЯ ein Waffenschmied, ein Sцldner der Partei, der durch seine "geistige Arbeit" Gewalt ausьben sollte. Nach dem berьhmten Ausspruch Stalins wurde dem Schriftsteller die Funktion eines "Ingenieurs der menschlichen Seele" zugewiesen, der die sozialistisch Unglдubigen durch BewuЯtseinsumbastelung zu bessern und zu bekehren hatte. Selbst entmьndigt, sollte der Schreibende, nunmehr "Tдtiger an der literarischen Front" genannt, dem Volke gegenьber die Rolle eines geistlichen Beistandes ьbernehmen.

Der vorgezeichneten "ideologischen Erziehung" des bulgarischen Volkes entsprechend, erhob der 5. Parteitag den sogenannten "sozialistischen Realismus" zur Grundrichtung auf dem Gebiet von Kunst und Literatur. (Dieser aus der Sowjetunion importierte, schon in den 30er Jahren quasiwissenschaftlich entwickelte Kunststil hatte die historische und die gegenwдrtige Wirklichkeit so darzustellen, daЯ das positive Wirken des Sozialismus als Prinzip der neuen Gesellschaftsordnung und als Zukunftsperspektive hervortreten sollte). Dann entfachte man eine Hexenjagd gegen die "Verfallserscheinungen in der neuen Literatur". Die kleinste Abweichung vom "sozialistischen Realismus" wurde als "Formalismus", oder "Idealismus", "Subjektivismus" oder "Objektivismus", "Дsthetizismus" oder "Apolitismus" - je nach den Umstдnden - angeprangert und verfolgt. Linientreue Literaturtheoretiker teilten, "wissenschaftlich begrьndet", alle bulgarischen Schriftsteller peinlich genau in "bьrgerliche" und "proletarische" ein. Es wurde besonders die sogenannte "ideologische Diversion" bekдmpft; dazu rechnete man jegliche Stellungnahmen zu philosophischen und religiцsen Fragen in Werken nichtmarxistischer Schriftsteller - sie wurden von indoktrinierten Literaturkritikern in Buchbesprechungen meistens als existentialistisch "demaskiert". Dies konnte fьr Autor und Verlagslektor schlimme Folgen haben: vom Publikationsverbot bis zur Ausweisung und Einlieferung ins KZ. In der Diktatur galten strengste Kontrolle und milde Bevorzugung. Die Partei ging dabei von hart bis zart vor - das nannte man "Kulturrevolution". Eine bedeutende Rolle in diesem grausamen Gesellschaftstheater, wo der Ideengehalt eines Gedichtes viel wichtiger war als sein дsthetischer Wert und erlernbares poetisches Handwerk ьber die geniale Intuition gestellt wurde, spielten die vom Staat gestifteten Literaturpreise.

So sah sich die bereits vielseitig entwickelte bulgarische Literatur ьber Nacht zu einer Dienerin der Partei degradiert. Sie stцhnte unter dem Druck von Verboten und Parteidirektiven, Zensur und Selbstzensur, insbesondere aber unter der Unmцglichkeit, mit dem sogenannten Westen, will sagen Europa, zu kommunizieren. Das nunmehr von der ideologischen Propaganda gesteuerte Bild des Abendlandes wurde stark verzerrt: man ьbersah seine "technischen Errungenschaften" zwar nicht, es wurde jedoch darauf gepocht, daЯ der Westen ein Reich der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sei. Daher wurde das Wort "prowestlich" zu einer gefдhrlichen politischen Einschдtzung mit der Bedeutung von Antisowjetismus und Antikommunismus. (In den 50er Jahren konnte man in Bulgarien von der Schule fliegen, wenn man enge Hosen trug, wie sie im Westen gerade modern waren, denn das galt als ideologische Abweichung.)

Unter diesen Verhдltnissen verдnderte sich auch die Aneignung der Weltliteratur in Bulgarien. Friedrich Schiller z.B. galt der marxistisch-leninistischen Doktrin als "subjektiver Idealist" und Anhдnger des "bьrgerlichen Philosophen" Immanuel Kant. Infolgedessen wurden seine poetischen Visionen in den ersten Jahren der "Kulturrevolution" als "schдdlich" gebrandmarkt. Gegen den "Idealisten" Schiller spielte man den "Materialisten" Goethe ideologisch aus und seine Werke durften problemlos erscheinen. Eine Reihe westlicher Autoren wurden tabuisiert; auf dem kommunistischen "Index librorum prohibitorum" standen die Namen von James Joyce, Marcel Proust und Franz Kafka, von Knut Hamsun, Gottfried Benn und Ernst Jьnger (wegen ihrer Sympathie zum Nationalsozialismus), und sogar die Namen der Lyriker Rainer Maria Rilke, Arthur Rimbaud und Giacomo Leopardi. Sie alle galten als Vertreter der "bьrgerlichen Dekadenz" und muЯten erst Jahrzehnte spдter von jьngeren Ьbersetzern fьr das bulgarische Lesepublikum neuentdeckt und erkдmpft werden.

Denn fьr die politische Propaganda war nicht nur die Wirtschaft, sondern auch der Kulturbetrieb des Abendlandes durch ideologische Institutionen gesteuert worden. (Man ьbertrug die eigene Praxis auf die kapitalistische Welt, jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen.) DemgemдЯ kцnnte kein westlicher Autor frei aussagen, was ihm am Herz lдge, sondern nur das, was man von ihm abverlangt hдtte, dafьr wьrde er auch bezahlt. In manchen Literaturwerken seien jedoch auch fortschrittliche Gedanken festzustellen, weil viele Schriftsteller im Grunde auf der Seite des Volkes stьnden und versuchten, die eigenen Ansichten durch das Nadelцhr der bьrgerlichen Zensur zu schmuggeln. Deswegen seien Werke, welche die kapitalistische Lebensweise kritisch-realistisch widerspiegelten, dem bulgarischen Volke nдherzubringen. Dies entsprдche der humanistischen Kulturpolitik der Partei. Jedoch die Bьcher abendlдndischer Autoren wurden durch die verдngstigten Verlagslektoren, deren innere Zensur strenger als die offizielle sein muЯte, sorgfдltig geprьft, von "schдdlichen" Stellen "gesдubert" und, wenn nцtig, durch Дnderungen und Zufьgungen "berichtigt". Ein solches Verfahren galt als "parteiliches und volksverbundenes Herangehen an westliches Kulturgut".

Die einzige Fremdliteratur, die im kommunistischen Bulgarien ohne Einschrдnkung erscheinen konnte, war die sowjetische. Sie war von groЯer Hilfe fьr die zwanghafte Durchsetzung des "sozialistischen Realismus". In Massenauflagen kamen Werke heraus, welche die siegreiche Rote Armee und ihren Oberbefehlshaber, den Generalissimus Josef Stalin, glorifizierten, die Partisanen als kristallreine Heilige darstellten und das prдchtige Heldentum des "neuen Sowjetmenschen" hochpriesen. Die Sowjetliteratur sollte als Vorbild wirken "fьr die literarische Gestaltung bislang in Bulgarien unbekannter gesellschaftlicher Vorgдnge und neuer Helden, die sich im Kampf um die revolutionдre Erneuerung des Lebens und beim sozialistischen Aufbau bewдhrten". (So die offizielle Einschдtzung.) Der eigentliche Zweck dieser umfangreichen und oft belanglosen literarischen Produktion war es, moderne Mythen zu schaffen, die den durch Terror und Diktatur verдngstigten "sozialistischen Menschen" zu einer neuen Zuversicht bringen sollten.

Der sogenannte "ProzeЯ der literarischen Neubewertung" nach der Durchfьhrung der "Sozialistischen Revolution" sollte einen neuen kultureller Anfang bedeuten. Er fьhrte jedoch zur geistigen Isolation Bulgariens von Europa. Durch die ideologische Steuerung bei der ErschlieЯung von Werken der Weltliteratur wurde das natьrliche Spannungsfeld der Einflьsse auf die erst vor sieben Jahrzehnten entstandene neubulgarische Literatur zerstцrt. Nunmehr galt ausschlieЯlich die Einwirkung durch die russische Kultur, und zwar in ihrer indoktrinierten sowjetischen Prдgung. Es ist daher kein Wunder, daЯ unter der kommunistischen Herrschaft die bulgarische Literatur ihre einst so mьhevoll gewonnene Identitдt allmдhlich verlor. Die erzwungene Einseitigkeit fьhrte zu einer geistigen Lдhmung und zu einer vorprogrammierten Provinzialitдt, deren AusmaЯ erst heute, nach dem politischen Umbruch im Lande, zu bewerten ist.

 

DIE VERLORENEN GENERATIONEN

Wer sich im sozialistischen Bulgarien literarisch betдtigen wollte, muЯte nolens volens mit dem Regime kollaborieren. Jedes geschriebene Wort, das von der Zensur zugelassen wurde, diente zur Fassadenverzierung der Diktatur. Die Partei behandelte die "Kulturschaffenden" nach der evangelischen Regel: "Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns." Man war ja schon ein Politikum, wenn man sich der Politisierung verweigerte. Fьr die Schreibenden galt es also: sich anzupassen oder von der Literaturszene zu verschwinden.

Die Formen der Anpassung waren zwar vielfдltig, sie alle entwickelten sich jedoch nach einem Schema: Damit man von der Parteimacht, die man durchschaut, abgelehnt und lange gefьrchtet hatte, sich nicht mehr verwunden lieЯ, schloЯ man endlich mit ihr eine Art von Pakt; man nдherte sich der Partei und betrog sich so lange ьber sie, bis man imstande war, ihr zu schmeicheln und mit ihr zu kollaborieren; es gelang einem auf diese Weise, den grцЯten Teil seiner Angst vor der Parteimacht zu verdrдngen und sich mit ihr sogar gleichzusetzen.

Die um die Jahrhundertwende Geborenen waren mit der kommunistischen Machtergreifung in einem Alter konfrontiert worden, in dem sie ihre Leistungen entweder schon vollbracht hatten oder auf dem besten Weg dazu gewesen waren. Nur wenige von ihnen konnten sich unter den erdrьckenden politischen und kulturellen Verhдltnissen kьnstlerisch durchsetzen, und zwar um einen zu hohen Preis.

Die Dichterinnen Dora Gabe (1888-1983) und Elisaweta Bagrjana (1893-1991) muЯten "den Sieg des Volkes" und "den Kampf um den Frieden" besingen, um literarisch ьberleben zu kцnnen. Der Romanschriftsteller Dimitar Talew (1898-1966) wollte sich zuerst nicht beugen und hatte mehrere Jahre im KZ zu verbringen; danach muЯte er цffentlich erklдren, der "sozialistische Realismus" habe ihm gestattet, in einer Zeit tiefer, allseitiger Umwдlzungen mit seinem Schaffen seinem Volke nahe zu sein; er wьrde sogar auf den ewigen Ruhm eines Homer verzichten, wenn er dafьr seinem Volke fernstehen mьЯte.

Der Lyriker Nikola Furnadshiew (1903-1968), ein ehemaliger Imaginist, pries nun die Partei in Oden hoch und verarbeitete Reiseeindrьcke zu Gedichte, in denen er den Kampf gegen die "Konterrevolution" 1956 in Ungarn besang oder seine Verehrung zur Sowjetunion bekundete. Der Erzдhler Emiljan Stanew (1907-1979) ging mit dem Gensek Todor Shiwkow zusammen auf die Jagd, um seine Linientreue zu bestдtigen.

Dimitar Dimow (1909-1966) muЯte auf parteiliche Weisung seinen Roman "Tabak" (1951) grьndlich "bearbeiten" und in einer zweiten, allerdings miЯlungenen Fassung (1953) die Figur einer kommunistischen Partisanin einfьhren; dabei hatte er zu bekennen, wie sehr das zielstrebige, mit wissenschaftlicher Akribie betriebene Studium der marxistischen Philosophie ihm geholfen habe, sich eine "bestimmte und klare Arbeitsmethode, diese des sozialistischen Realismus" anzueignen.

Viele Schriftsteller der дlteren Generation, wie z.B. Nikolai Liliew (1885-1960), Nikolai Rainow (1889-1954), Stojan Sagortschinow (1889-1969), Konstantin Konstantinow (1890-1970), Konstantin Petkanow (1891-1952), Swetoslaw Minkow (1902-1966), Fani Popowa-Mutafowa (1902-1977) oder Atanas Daltschew (1904-1978), konnten sich nicht anpassen und muЯten auf lange Zeit oder fьr immer verstummen.

Die Generation der um 1920 Geborenen, die den politischen Umsturz als junge Leute erlebt hatten, brachte sehr interessante und widerspruchsvolle Namen hervor. Viele unter ihnen waren von der kommunistischen Idee ergriffen und begeisterten sich aufrichtig fьr eine neue, gerechtere Zukunft. Die meisten sollten allerdings schwere Enttдuschungen erleben, die nicht alle verkraften konnten, so z.B. der Lyriker Iwan Pejtschew (1916-1976), der dem Alkoholismus verfiel und sich daraufhin das Leben nahm, oder der Partisanendichter und Politkommissar Wesselin Andreew (1918-1992), der nach dem demokratischen Umbruch seine Partei verdammte und einen spektakulдren Selbstmord beging.

Der Dichter und Dramatiker Waleri Petrow (geb. 1920) stand zwar kritisch zu den in den 50er Jahren sogenannten "Erscheinungen von Dogmatismus im gesellschaftlichen und geistigen Leben, von Schematismus und vulgдrsoziologischer Vereinfachung der kьnstlerischen Widerspiegelung, von paradehaftem Pseudooptimismus, nacktem Illustrieren und abstraktem Moralisieren", trotzdem aber hielt er an seiner kommunistische Partei fest, bejahte ihre Macht und fьhlte sich als Kulturschaffender wie ein siamesischer Zwilling mit ihr verwachsen.

Die Lyrikerin und Romanschriftstellerin Blaga Dimitrowa (geb. 1922) begann mit "Gedichten von dem Fьhrer", wobei der bulgarische Parteifьhrer Georgi Dimitroff, der "Held von Leipzig", gemeint war. In der Folgezeit jedoch entwickelte sie einen eigenen lyrischen Ton, der sich vom "Aufbaupathos" deutlich unterschied. Im Laufe der Jahre distanzierte sie sich von der Partei, wurde zu einer fьhrenden Figur in der Dissidentenbewegung der 80er Jahren, die im "Klub fьr Glassnost und Perestrojka" wurzelte, und wurde schlieЯlich als Kandidatin der demokratischen Opposition 1992 zur Vizeprдsidentin Bulgariens gewдhlt. Radoj Ralin (geb.1923), der mit lyrischen Gedichten angefangen hatte, wurde mit der Zeit zu einem gefьrchteten Satiriker: manche regierende Hдupter dьrften bisweilen schlaflose Nдchte wegen seiner beiЯenden Versen gehabt haben. Einen anderen Weg ging der Dichter und Dramatiker Georgi Dshagarow (geb. 1925): er verfiel der Verlockung der Macht, ьbernahm verantwortungsvolle Parteifunktionen und wurde Mitglied des Politbьros, um als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes seine renitenten Kollegen repressieren zu kцnnen.

Die durch die offizielle Literaturkritik so bezeichnete "April-Generation" (benannt nach dem Plenum des ZK der Bulgarischen Kommunistischen Partei im April 1956), erhielt in der "Tauwetterperiode" nach dem Tod Stalins 1953 und der Abrechnung mit dem Personenkult ein wenig mehr Freiheit fьr kritische Aussagen. Man orientierte sich an modernen russischen Dichtern wie Jewtuschenko und Wosnesenski und schrieb Gedichte, erfьllt von "kritischem Pathos", so z.B. der frьhverstorbene Lyriker Wladimir Baschew (1935-1967) oder Ljubomir Lewtschew (geb. 1935), der "aus der inneren Gespaltenheit den poetischen Funken schlug" (so die Literaturkritik), was ihn allerdings nicht hinderte, ebenfalls Mitglied des ZK der Partei zu werden und die Repressionstдtigkeit seines Vorgдngers Dshagarow fortzufьhren. Eine Reihe von Vertretern der "April-Generation" begingen Selbstmord, so z.B. der Literaturtheoretiker Minko Nikolow (1929-1967), der Aufbaudichter Penjo Penew (1930-1959), oder der Lyriker Christo Bankowski (1937-1976), denn sie konnten die Diskrepanz zwischen kommunistischem Sein und Schein nicht verkraften.

Die um 1940 Geborenen, die den Umsturz als Kinder erlebt hatten, zдhlen heutzutage zur sogenannten "Sandwich-Generation". Ihre Vertreter waren wдhrend der kommunistischen Machtergreifung noch zu jung, um sich fьr eine totalitдre Illusion begeistern zu kцnnen und dadurch doch etwas GrцЯeres zu leisten; nach dem demokratischen Umbruch aber waren die meisten bereits zu verbraucht und ermьdet, um einen neuen Anfang zu wagen. Ein bedeutender Autor unter ihnen ist der Romanschriftsteller und Essayist Dimitar Korudshiew (geb. 1940), der sich mit seiner engagierten Haltung wдhrend des Demokratisierungsprozesses einen Namen gemacht hat.

Die um 1960 Geborenen, die nur die Verfallsphase des Sozialismus kennen, tragen in sich die Hoffnung auf Erlцsung von der jahrzehntelang andauernden Stagnation in der neubulgarischen Literatur. Die bedeutendste Erscheinung unter ihnen, die Lyrikerin Petja Dubarewa (1964-1981), beging allerdings noch vor dem Umbruch Selbstmord. Diese Generation, zu der noch der Erzдhler Wiktor Paskow (geb. 1958), der satirische Dichter Boiko Lambowski (geb. 1960) und die Lyrikerin Mirela Iwanowa (geb. 1962) gehцren, sieht schon das Licht im Tunnel.

 

DAS LICHT IM TUNNEL

Im Herbst 1989 wurde der Generalsekretдr der Bulgarischen Kommunistischen Partei Todor Shivkov im Ergebnis eines Putsches im Politbьro gestьrzt. Dies leitete eine stьrmische politische Entwicklung im Lande ein, es kam zu den ersten freien Wahlen seit fьnfundvierzig Jahren und denen zufolge muЯten die Kommunisten ihre Alleinherrschaft einbьЯen. Eine neue literarische Entwicklung konnte beginnen.

Die in Bulgarien des Sozialismus geschriebene Literatur war trotz des ideologischen Zwanges und trotz der Anpassungshaltung vieler Schriftsteller alles andere als Makulatur, sieht man von einigen Kuriositдten ab, die in ein zeitgeschichtliches Museum gehцrten. Diese Literatur war im groЯen und ganzen niemals identisch mit der Kulturpolitik der Partei. Sie wurde von einem oft unbewuЯten Streben nach weiteren, demokratischeren Horizonten getragen. Sie hatte zwar ihre legitimen und vorbildlichen Reprдsentanten, aber sie entwickelte sich in der Isolation, ihre geistigen Traditionen sowie ihre Beziehung zur europдischen Kultur waren abgebrochen. In der kommunistischen Diktatur entstand keine einzige Kunststrцmung, keine literarische Schule. Es gab eine Anzahl von guten Gedichten, Erzдhlungen und Theaterstьcken, dies war aber nicht bulgarische Literatur, sondern es waren bloЯ Werke, die in Bulgarien von Bulgaren erschaffen worden waren.

Nach dem demokratischen Umbruch galt es als erstes, die kommunistischen Tabus zu durchbrechen und die neugewonnene Lese- und Publikationsfreiheit voll auszukosten. Die frьher verbotene dissidente Literatur fand groЯe Verbreitung. Es erschien z.B. in zweiter Auflage das vormals von den Buchhandlungen eingezogene Buch "Der Faschismus" von Shelju Shelev, dem ehemaligen Oppositionsfьhrer und ersten Prдsidenten der neuen Republik. Noch vor der Wende war zwar viel an dissidenter Literatur aus der im Zeichen von Glassnost und Perestrojka stehender Sowjetunion gekommen, die kommunistische Macht in Bulgarien hatte jedoch zum ersten Mal auch sowjetische Druckschriften unter Zensur zu stellen. AufschluЯreich war damals der Fall des Lyrikers Eftim Eftimow, der Chefredakteur der Zeitung "Literaturen Front" war, eines der Organe des gleichgeschalteten Schriftstellerverbandes. Ende 1987 muЯte er von seinem Posten abtreten, weil er den sogenannten "Schaum der sowjetischen Presse" ьber mehrere Nummern abgedruckt habe. Mit "Schaum" hatten die Kulturbehцrden Perestrojka-Artikel aus den russischen Zeitschriften "Nowi Mir" und "Literaturnaja Gasetta" gemeint.

Im posttotalitдren Bulgarien wimmelt es nun von neuen Verцffentlichungen. Viele literarische Zeitungen und Journale schieЯen aus dem Boden: manche tragen die Namen von einst untersagten Zeitschriften wie "Hyperion" und "Now Zlatorog", andere heiЯen bedeutungslos "Swep" und "Nawa", oder vieldeutig "Most" (Brьcke) und "Glass" (Stimme). Diese beiden konnten allerdings noch im letzten Jahr der Diktatur erscheinen. Es sind ьbrigens die ersten vom Staat unabhдngigen Literaturzeitschriften in Bulgarien. "Most" hat sich schon vor dem Umbruch als Forum fьr Autoren verstanden, die sonst nicht verцffentlichen kцnnten. In "Glass" hingegen sind neben Ьbersetzungen von Anna Achmatowa auch Aufsдtze zur Inflation in Bulgarien zu finden.

Sehr rege ist heutzutage das Interesse fьr essayistische Literatur sowie fьr kritische Erinnerungen an die vergangene Zeit. Es hat eine richtige Memoiren-Welle den bereits freien Buchmarkt in Bulgarien ьberflutet: "Die Dornenkrone" gibt das Leben des vorletzten bulgarischen Zaren Boris des Dritten wieder, und zwar aus der eigenen Sicht des Autors, dessen Vater einst im Hof tдtig war; "Gesprдche mit Burow" erfassen die Erinnerungen eines ehemaligen Ministers, der von den Kommunisten ins Gefдngnis eingeliefert wurde und dort gestorben ist; "Im Kabinett von Todor Shiwkow" ist auch eine Neuerscheinung, in der der Alltag des letzten kommunistischen Gensek aus der Sicht seines Sekretдrs geschildert wird.

Besonderer Popularitдt erfreuen sich die Erzдhlungen eines Wiktor Paskows sowie auch sein Roman "Deutschland, ein schmutziges Mдrchen", der vorwiegend in der Ex-DDR spielt. Romantik und Ironie, Satire und gehobenes Gefьhl wirken bei ihm zusammen. Unter den jьngeren Lesern hat sich der Dichter Boiko Lambowski einen Namen gemacht. Seine Lyrik hat nichts mit dem zu tun, was frьher "sozialistischer Realismus" hieЯ. Seine Poesie ist hдЯlich wie die neue Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit kann ein Poet nicht besingen, in ihr und ьber sie kann er nur lallen, irrereden, bellen und kotzen; fьr ihn gibt es keine "Flucht in die Einsamkeit" mehr, kein "Arkadien", keine platonische Liebe, keinen Enthusiasmus. Die Poesie von Boiko Lambowski ist keine Poesie des Protestes; sie fordert nichts, sie vermittelt keine Botschaft, sie erhebt keine Ansprьche; sie will eine Momentaufnahme der bulgarischen Цdnis sein, und sie ist es. Da ist aber auch die immanente Gegenwart von Kultur in Form von Anspielungen, Reminiszenzen, Zitaten aus dem europдischen Erbe, das BewuЯtsein vom Werk, das jedoch seine Spontaneitдt nicht beeintrдchtigt, die Дquilibristik zwischen ironischem Pathos und lyrischem Hцhenflug.

Die Zeiten sind so, daЯ vielen bulgarischen Schriftstellern Leben jetzt wichtiger ist als Schreiben. Denn die Ebenen Leben und Schreiben waren vormals grotesk auseinandergeraten. Ihre Bьcher werden auch nicht mehr so einfach verlegt und verkauft wie frьher. Die Verlage werden privatisiert und wollen Profit machen, es scheint, als ob zwischen Autor und Leser nun statt der Partei die marktwirtschaftliche Verteilung getreten ist, mit dem gleichen, verheerenden Ergebnis. Die Zensur, sowohl die politische als auch die moralische, ist verschwunden. Es wird in Bulgarien jetzt auch die Erotik entdeckt, die Pornographie, der harte Krimi. Auf den StraЯen werden die ersten bulgarischen Sexmagazine verkauft. Neben Erotika richtet sich das verstдrkte Interesse vor allem auf Bьcher ьber Astrologie, Numerologie und andere esoterische Lehren. Auch hier hat die westliche Kulturindustrie Vorrang.

Die literarische Entwicklung im posttotalitдren Bulgarien ist also mit der Erstellung eines neuen, mцglichst differenzierten Bildes des Abendlandes verbunden. In Krisenzeiten hatte die bulgarische Vorstellung von Europa und dem Westen immer wieder an idyllischen Zьgen gewonnen. Dies ist auf die gestцrten Lebensverhдltnisse und das menschliche Bedьrfnis nach Identitдtsfindung gegenьber fremder Herrschaft, Staatsgewalt und Parteiapparat zurьckzufьhren.

Im heutigen Bulgarien ist nun das Problem der Zugehцrigkeit des Landes zum "PulverfaЯ" Balkan mit dem Bedьrfnis nach einer europдischen Identitдt verbunden. Nach dem Philosophen Shelju Shelev ist "Europa" "auch mehr als nur eine Gemeinschaft von mehreren Hundert Millionen Menschen, die auf einem Territorium leben - "Europa" ist gleichsam eine exterritoriale Gemeinschaft, die in einer neuen Welteinstellung wurzelt." Das Heimweh nach Europa ist als Suche nach der eigenen Identitдt im Rahmen eines "virtuellen Europa" zu verstehen, wo der Begriff "Balkan" nicht mehr den Beiklang von Barbarei, von Provinz und asiatischer Steppe hat.

Vor Jahren hatte ich einen Aphorismus verfasst, der mir zur Situation der bulgarischen Literatur im Umbruch zu passen scheint: "Im Sozialismus weiЯ man alles von der Zukunft, nichts von der Gegenwart, und die Vergangenheit ist Staatsgeheimnis." Heute gilt es, die unbekannte eigene Gegenwart zu erforschen und sie literarisch zu verarbeiten, auf daЯ sie gesellschaftlich vermittelt und so bewдltigt werden kцnnte. Ein mцglicher Ausweg zur Wiederfindung der in der Diktatur verlorenen kulturellen Identitдt ist die Wiederherstellung des natьrlichen Spannungsfeldes der geistigen Einflьsse von Russland und Europa, jedoch unter Einbeziehung von Einwirkungen durch den Mittelmeerraum: Griechenland, Italien, Spanien. Denn Bulgarien, wie auch andere ehemalige sozialistische Lдnder, die mehrere Jahrzehnte lang unter "russischer Hypnose" gestanden haben, ist von der geistigen Entwicklung Europas zurьckgeblieben und es gibt wieder Vieles nachzuholen. Erst dann wird das literarische Leben Bulgariens durch die verschiedensten kulturellen Einwirkungen geprдgt, die einander durchdringen; erst dann entfaltet es sich wieder voller Widersprьchen und verlдuft wieder sprunghaft und chaotisch, also durchaus normal.

 

 

© Wenzeslav Konstantinov
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© E-magazine LiterNet, 22.12.2002, No 12 (37)

Gehalten an der Universitдt Bern, Schweiz, 1992.