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MELNIK

Konstantin Konstantinov

web

Finster und stumm offenbart sich langsam, Falte um Falte, das Gebirge in einer endlosen und ermüdenden Gleichförmigkeit. Wir kriechen entlang des ausgegrabenen Weges zwischen chaotischer Unordnung der unzusammenhängenden Hügel, eingetaucht in tiefe Stille. Die an der Straße gelegenen Sträucher rascheln nicht, kein Vogel meldet sich. Grenzenlose braune Anhöhen strahlen Ödnis aus und zu dieser vorabendlichen Stunde erklingt abgerissen und trostlos und mit einer unheilverkündenden Deutlichkeit der Lärm eines Motors. Irgendein Gefühl von etwas verworren Bekanntem, halb erloschen im Gedächtnis und jetzt von Neuem ins Bewusstsein getaucht. Als ob du irgendwann vor tausenden von Jahren aus eben diesen Kämmen und Hügeln, die da ausgebreitet wie Rücken prähistorischer Ungeheuer, gewesen wärst - und ebenso abweisend und taub schwiegen sie in jener fernen Stunde der untergehenden Sonne. Als ob irgendein kosmischer Traum sich vor Menschengedenken auf diesem verlorenen Erdfleck niedergelassen hätte und heute einzig Schritte dieses tote Schweigen weckten.

Irgendwo inmitten des Abgrunds tost ununterbrochen der schäumende und schnelle Fluss. Die niedrigen Sonnenstrahlen erhellen fern dort, im Osten, dem senkrechten Hang wie Schwalbennester anhaftend, die dunklen Häuschen irgendeines Dörfleins. Aber sowohl das Rauschen des Flusses als auch das ferne Dörflein scheinen, als ob sie geboren wären von demselben anfangslosen Traum und wir bewegen uns verunsichert fort, wie in dem unheimlichen Märchen über das schlaflose Königreich.

Und wenn nach mehreren Minuten der Weg vollkommen unerwartet zerbricht und vor unseren Augen, plötzlich, gerade vor uns, das entblößte Skelett von Melnik zum Vorschein kommt, versinken wir endgültig in dem schrecklichen Zarenreich des Vergangenen und der Ödnis.

Stadt?... Das ist doch nicht etwa eine Stadt, diese ungeordnete Schüssel herabgestürzter und halbherabgestürzter steinerner Bauwerke, zersprungen über den zwei Ufern des vertrockneten Flussbettes? Dieses Dörflein ohne Straßen, ohne Stimmengewirr und ohne Leute?...

Ein Gespenst, schweigsam und tragisch, auf einer verschwundenen Welt, eine Erscheinung von anderer Zeit, letzte Überreste der seltsamen Mischung eines altertümlichen italienischen Städtchens mit rein orientalischen Formen unter der leuchtenden türkisfarbenen Kuppel dieses südlichen Himmels. Wie Schlachttürme erheben sich die noch überlebenden Häuser über die Hänge der beiden Ufer: Fünf bis zehn Meter steinerne Geschoße mit den berühmten, in Stein geschlagenen Weinkellern aus Melnik und oben - die breiten hölzernen und verglasten Veranden der Häuser. So aufrecht an diesen steinernen Beinen ähneln sie stattlichen Freischärlern, mit weißen Leggins und zottigen Fellkappen, Wache stehend und gen Süden starrend. Und über ihnen und um sie mit breitem und bösem Grinsen, beleuchtet von der Sonne, grinsen die gelbroten senkrechten Anhöhen, welche im Halbkreis ein ehemalig blühendes Dörfchen versperren.

Und Stille, eine wahnsinnig machende Stille herrscht in diesen Ruinen. Zwei Kriege haben hier gelärmt, nacheinander, und sie ließen wahrlich keinen Stein auf dem anderen. Und heute - so ist es bereits seit Jahren - zählt die Stadt 721 Einwohner: vermutlich die einzige Stadt der Welt mit 721 Einwohnern. Und diese 721 Menschen beenden den Traum der Stadt, der Gebäude, welche eines nach dem anderen verfallen, umher die unzähligen verwüsteten Weinberge.

"Wenn es zu regnen anfängt," erzählte man uns, "gehen wir ganze Tage lang nicht nach draußen: Die Talschlucht überströmt alles, die Häuser werden ganz voneinander getrennt und wir warten, bis es vergeht... Und wenn ein Gebäude einstürzt, ziehen wir in das nächste..."

Unsere Schritte hallten auf dem gekrümmten Kopfsteinpflaster des Pfades wider. Von den Lichtscharten der mächtigen, hohen Mauern her roch es nach stickiger Feuchtigkeit und Trester. An dem Glas der Veranden glänzten gelbe Flecken vom Sonnenuntergang und hier und dort wiegte sich das schwarze Kopftuch einer Greisin wie eine altertümliche Gravüre in den Rahmen des Fensters.

...Hier war der einstige Gebirgskurort des alten Byzanz. Hier war der ferne, aber angenehme Ort der Verbannung für höhergestellte - weltliche und geistige - Würdenträger des Imperiums. Die Stadt der siebzig Kirchen, deren Ruinen am gegenüberliegenden Hang weiß schimmerten. Sogar die moslemische Herrschaft erreichte später diese verborgene Ortschaft, geschützt durch die Schatten Pirins und Belasicas, nicht. Freudig hallte es von den Kupferwerkstätten; von den wildwüchsigen Weinbergen ringsum klangen Lieder und Stimmengewirr; über das Städtchen schwebte der intensive Wohlgeruch des schwarzen Federroten; Karawanenwagen knarrten entlang der Ebenen Thrakiens und Makedoniens, das granatapfelfarbene Blut des Berges forttragend. Das Leben war ein wahres Leben: farbenfroh, beseelt und bedeutungsvoll - keine unsinnige und lange Agonie.

Heute: Eine Bäckerei, eine Werkstatt mit aufgehängten Seilen, Säcke mit Bohnen, ein paar Seifen, eine sich am Berg neben zwei Blechtonnen mit kleinen Äpfeln hingekauerte Figur - und das leidenschaftslose sonnige Lächeln über diesem steinernen Friedhof...

Und trotz allem ist es dort, am Eingang der Stadt, laut und gesellig. Morgen ist ein Feiertag und unter der hundertjährigen Platane, dort wo sich ein niedriges altes Café anschmiegt, haben sich zum Plaudern armselig gekleidete aber adrette und fröhliche Menschen versammelt. Der funkelnde Wein macht erneut seine Runde auf den Tischchen, zwei Menschen schütteln verbissen die Hände und rufen: "Zweihundert Taler" - "Hundertfünfzig!". Sie verhandeln um ein Pferd. Die anderen beäugen sie schelmisch und necken sie. Und in den kurzen Pausen des Stimmengewirrs klingt von irgendwo aus der Ferne die weiche Melodie einer Okarina herunter.

Die Schatten werden länger und wandern auf die andere Seite, wandern entlang der gegenüberliegenden Anhöhe. Der Himmel wird von blaugrünen Wellen überflutet, versonnen raschelt der Wind in den Zweigen der Platane. Es fällt ein weiterer Abend auf die tote Stadt.

Verworrener Kummer überflutet die Dinge ringsum: Wie gespenstisch hier doch tatsächlich alles ist - unten, auf der Erde!... Als ob plötzlich die Unsinnigkeit und Leere des Universums ihr klangloses, lähmendes Lachen ausschütteten und den leisen Tag Gottes verfinsterten.

Wir verabschieden uns von der Stadt und von den Leuten. Ein junges Paar, vor einigen Monaten aus Sofia angekommen, begleitet uns. Bleiche, erschöpfte, aber energische und kluge Gesichter: die kürzlich Jungvermählten, fast Jugendliche - er Akademiker, sie ebenso gebildet. Sie hat sich ergeben an seinen Arm gelehnt, während seine schlanke Figur, ordentlich im wollenen Reiseanzug, Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit verströmt. Ich schaue sie an und ich bekomme Angst. Was für eine Heldentat es doch ist, die eigene Liebe und Jugend an so einem öden Ort zu vergraben, dort wo ein jeder Stein Untröstlichkeit und Tod verströmt. Aber das zurückhaltende - würde man sagen - ernste Lächeln, welches in den Augen der beiden leuchtet, verstört uns plötzlich, als ob es sagen wollte: "Das ist so einfach und natürlich: Sie sind freiwillig hierhergekommen, um zusammen zu arbeiten. Was ist daran so verwunderlich?"

"Ich werde ein Stück weit mit Ihnen fahren", sagt der Bursche. "Wohin zu dieser Zeit?", fragen wir. "Ist morgen denn nicht Feiertag?" "Heute Früh ist er vom Dorf zurückgekommen, aber morgen ist Sonntagsschule in S.", entgegnete mild seine Freundin. "Er als Lehrer sollte nicht abwesend sein...". Und ihre einsame Figur zeichnete sich am feuriggoldenen Hintergrund des Sonnenuntergangs ab, groß und feierlich, wie eine gesegnete Madonna.

Wir nehmen erneut den unebenen Weg auf, entlang der grenzenlosen Hügel. Am Hang, bis zu einer Kurve auf dem Weg, sind zwei Menschen mit Hacken, gebeugt in der Dämmerung, sie bearbeiten den mit Sträuchern durchsetzten Hang und ebnen den Boden. Unser Weggefährte deutet die Umrisse eines Rechtecks an: "Sehen Sie wie hier die Erde erobert wird - Spanne um Spanne... Sie bereiten das Feld für den Tabak vor..."

Und plötzlich enträtselt eine breite Erleuchtung das schwere Gefühl der Stadt. Irgendeine elementar-einfache und strahlende Wahrheit leuchtet atemberaubend auf. So nichtig sahen jetzt alle äußeren und zeitlichen Dinge aus, die bis vor kurzem bedeutsam: sie waren doch nicht die Wesen im tausendjährigen Weg eines Volkes?... Wie kommt es, dass vereinzelte Städte verfallen, dass Menschen alleine oder zu hunderten schwinden? Ist das Leben nicht eine ununterbrochene Wandlung? Doch wessen Schwert wird diesen rauen Willen wenden, der sogar die Natur überwindet und dessen Kraft dieses frohe Bewusstsein für Schuld und Wahrheit auslöschen wird, das sich nicht vor dem Tod fürchtet?...

In der schwarzen Frühlingsnacht leuchteten die Scheinwerfer des Autos auf. Zur Seite verliefen die finsteren kleinen Anhöhen, das Feld offenbarte sich - dunkel, geräumig, voll mit aufbrausenden Frühlingskräften. Wir schwiegen jetzt, als ob wir uns zum ersten Mal der unbekannten und großen Seele des Volkes angeschlossen hätten.

1926

 

 

© Konstantin Konstantinov
© Übersetzung: Jasmin Degenhart
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© E-magazine LiterNet, 25.06.2013, № 6 (163)