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NATIONALSTAAT ODER "NETZWERKSTAAT"

Blagovest Zlatanov

web

Heutzutage entwickelt sich die Debatte über den Nationalstaat und seine Zukunft am meisten vor dem Hintergrund von zwei Hauptthemen. Beim ersten Thema geht es darum, das Schicksal des Nationalstaates im Kontext der übernationalstaatlichen Vorgänge wie des Aufbaus der erweiterten Europäischen Union zu erörtern. Beim zweiten Thema stellt sich die Frage, was dem Nationalstaat geschieht, wenn das Problem der Minderheitsrechte aller Arten - ethnischen, Geschlechts-, sexuellen usw. - als subnationaler Entitäten auch im Betracht gezogen werden muss.

Erkenntnistheoretisch bin ich jedoch der Meinung, dass die aktuellen Stellungsnahmen wie diese in Bulgarien heute, wenn sie von einer geschichtsphilosophischen Betrachtungsweise nicht ergänzt werden, die Möglichkeit einer umfangreicheren und tieferen Analyse eines Themas, in unserem Fall der Zukunft des Nationalstaats, unweigerlich einschränkt.

Erst wenn man schon über eine geistesgeschichtliche Erklärung des Begriffs Nationalstaat verfügt, wird es möglich, dass der Begriff Nationalstaat sich nicht als so begreiflich und bekannt erweist.

Erlauben Sie mir zunächst die These meines Vortrags ganz kurz zusammenzufassen. Es gibt meiner Meinung nach drei grobe Phasen des Nationalstaatdenkens in Bulgarien.

Erstens, die Auffassung der Volknation als imaginärer kultureller und politischer, aber staatloser Totalität während der so genanten bulgarischen Wiedergeburtzeit des 19 Jahrhundertes, die folglich mit der letzten Phase der türkischen Herrschaft über die Bulgaren zusammenfällt.

Zweitens, die Phase des Nationalstaats zwischen 1880 und 1944, wo die Nation sich als reale sich selbst im Rahmen eines Staats verwaltende Totalität ansieht. Diese beiden Vorstellungen von der Nation stützen sich auf die Wert- und Lebensstrukturen der Religion, der traditionellen lokalen Gemeinschaften und der jahrhundertlangen Verwandtschaftssysteme.

Drittens, bei dem kommunistischen Totalitarismus nach 1944 waren die Volknationsidee von der proletarischen Volksidee und der Nationalstaat von dem, was ich in diesem Vortrag „Netzwerkstaat“ nenne, gewechselt. Aus dieser Entwicklung ist man berechtigt, die These aufzustellen, dass der Nationalstaat in Bulgarien im Sinne, in dem ich ihn später interpretiere, seit langem, schon in der Epoche des Totalitarismus zunichte gebracht ist.

Viertens, nachdem der totalitäre Netzwerkstaat in seiner Zeit die Nationalstaatsidee etatsächlich außer Kraft setzte, seine Nachfolger, der demokratische Netzwerkstaat nach 1989 der Wiederbelebung dieser Idee nicht die Spur einer Chance gab. Heutzutage spricht niemand in Bulgarien, mit Ausnahme von einigen archaischen und lächerlichen Figuren, von Nation oder Nationalstaat. Es gibt keine Nation mehr, nur eine Menge Wähler. Es dürfe keinen Nationalstaat mehr geben, nur den Staat der Netzwerke.

Im Rahmen der geistesgeschichtlichen Auslegung des Nationalstaats, die in der zweiten Hälfte des 18 Jahrhundertes die philosophische Bühne mächtig erobert, sind sowie der Staat als auch seine Strukturteile als soziale „Ganzheiten“ aufgefasst, die der Natur ähnlich dem individuellen Handeln vorgeordnet sind. Welche ist denn diese gleichermaßen naturorganische, d. h. naturwüchsige, und gesellschaftliche Ganzheit, die dem Staat als Vorbild gelten könnte? Die Antwort lautet zweifellos - „Nation.“

Die Nation und der Staat treffen sich verhängnisvoll, um die These der Möglichkeit einer Identität vom Staat, der Natur und dem Naturwesen des Menschen zu entwickeln und zu verteidigen. Das Sinnbild und die empirische Verkörperung dieser Identität ist der Nationalstaat. Die Nation, die als ein naturähnlicher und menschenähnlicher Organismus konzipiert wird, ist die Bindestruktur zwischen dem Staat und der Natur.

Auf diese Weise als für die Nation bestimmende Hauptmerkmale sollten mindestens die folgenden drei gelten: 1. die für alle Mitglieder der Nation gemeinsame biologische Herkunft, d. h. alle Menschen gehören zum gleichen Stamm; 2. die für alle Mitglieder der Nation gemeinsame Sprache; und 3. die für alle Mitglieder gemeinsame und allgemeingültige Nationalmythologie oder gründliche Weltanschauung. Mir scheint es nicht schwierig zu verstehen, wie die Nation aufgrund dieser drei Hauptzüge Natur und Staat allmählich zusammenbringt. Wenn diese drei „natursozialen“ Hauptzüge - gemeinsame Herkunft (biologische und geistige), gemeinsame Sprache (die eine Verbindung von biologischen Sprachorganen und geistigen Bewusstseinvorgängen darstellt) und gemeinsame Mythologie/Weltanschauung (welche sowie die Ontologie der Natur, als auch diese des Geistes auslegt) - sich eng sowie diachronisch, als auch synchronisch verknüpfen, bekommt man die zeitlich-räumliche Totalität der Nation, welche deren ganze sowie sozialgeschichtliche Zeit, als auch räumlichgeographische Existenz umfängt.

Mehrere Denker dieser Richtung der Philosophie in den 18 und 19 Jahrhunderten unterstreichen insbesondere die typologische Harmonie zwischen den Menschen und dem nach dem Vorbild der Nation aufgebauten Staat. Die beiden sind eine Verknüpfung aus Naturvoraussetzungen und Geistesphänomene. Die Natur hat jedoch in dieser Verknüpfung einen prägnanten Vorrang, da sie ohne Menschen und menschliche Organisation - Staat oder Gesellschaft existieren könnte, nicht umgekehrt.

Die letzte Schlussfolgerung spielt vom Anfang an entscheidende Rolle bei der Auslegung der Nationalstaatsidee in Bulgarien. Die Nation, die ursprünglich eine rein kulturelle Geistesidee darstellt und rein geistige und imaginative Phänomene wie gemeinsames Schicksal, gemeinsame Sprache, gemeinsame Mythologie, gemeinsame Herkunft (da gab es in Bulgarien keine empirischen Belege für sie) einschließt, jetzt wird in einer tastbaren und hochkonkreten Menschengemeinschaft - dem Volk - substantialisiert und verkörpert. Vom Anfang an ist das Volk im Falle Bulgariens, obschon die Nationalideologen am meisten den Begriff „Volk“ verwenden und ihn vor dem Begriff „Nation“ bevorzugen, eine zeitlich und räumlich verkörperte Nation, die Nation ist ihrerseits ein entkörpertes imaginativ gedachtes Volk. Das Volk ist genauso eine hoch organisierte Lebenstotalität von Menschen, wie die Nation eine hoch entwickelte Totalitätsidee des Gemüts vorstellt. Die historischen Umstände in zweiten und dritten Vierteljahrhunderten des 19 Jahrhundert in Bulgarien wirkten so, dass die Staatsidee völlig aus der Volksidee abgeleitet wurde. Denn die Bulgaren, da unter der türkischen Herrschaft lebend, waren eigentlich nicht sogar Untertanen des Sultans, sondern eine besondere Gruppe von Sklaven, die keine Staatsrechte hatten, konnten die bulgarischen nationalen Wiedergeburtideologen des 19 Jahrhundertes die Idee eines bulgarischen Staats nicht dem da realen türkischen Staat, sondern nur der historisch geprägten für die Bulgaren typischen Alltagslebensorganisation, und der aus dem Ausland, am meisten aus der deutschsprachigen Philosophie, eingeführten Nationalidee entnehmen. Die Bulgaren konnten ihren zukünftigen, ersehnten und freien Staat auf keine Weise als ein soziales Vertragschließen einer zufälligen, vorher zerstreut lebenden, Menschenmasse vorstellen. Die bulgarische Nation wurde vom Anfang an als nicht nur kulturelle und anthropologische, sondern auch als politische Gemeinschaft des Volkes angesehen. Als Volknation erhebt sie den Anspruch darauf, dass nur sie selbst ihren Staat einrichten und weiter entwickeln soll. Im Nationalstaat sollte das Volk frei sein, sich selber zu verwalten. Das war eigentlich die erste, sagen wir „imaginative“ Phase des bulgarischen Staatsdenkens.

Sie prägte jedoch die fast ganze zweite Phase, diese zwischen 1878, wann die Bulgaren sich von der türkischen Herrschaft befreiten und ihren eigenen Staat erhalten, und 1944, wann die bulgarischen Kommunisten die Gewalt über den Staat übernahmen. Außer dem tatsächlichen Staatsaufbau, den ich hier nicht besprechen werde, wurde diese zweite Phase fast ganz von der schmerzlichen und tragischen, von der Wiedergeburtzeit ererbten Staatsidee durchgedrungen, dass der bulgarischen Staat sich da befindet, wo das bulgarische Volk in seinen ethnischen Grenzen lebt. Der reale bulgarische Staat nahm während dieser Phase erfolglos an fünf Kriegen teil, um die imaginäre romantische Staatsidee zu verwirklichen. Diese tragische Beharrlichkeit und diese schicksalhaften Ergebnissen beweisen, wie tief die romantische volknationale Staatsidee im bulgarischen kollektiven Bewusstsein eingeprägt war. Wir sehen leicht ein, dass dieses Denken utopische und zentrifugale Momente enthält. Der reale bulgarische Nationalstaat ist nicht da, wo die internationalen Verträge ihre Grenzen ankündigen. Er ist eher da, wo die ethnischen Bulgaren ihre Gemeinschafts- und kulturellen Vorstellungen und ihr selbst organisiertes Leben bewahren und weiter führen. Und obwohl die politische Infrastruktur nach dem Vorbild Belgiens aufgebaut wurde und manche Teile der Wirtschaft einer Industrialisierung unterlagen, wurde die Vorstellung eines bulgarischen Nationalstaats unumgänglich von einer traditionellen Autoritätsidee beeinflusst. Der bulgarische Nationalstaat wurde von den meisten Teilen der Bevölkerung bis zu den 40 Jahren des 20 Jahrhundertes als institutionelle Verkörperung und symbolische Darstellung von Autorität angesehen. Dabei wurde die in Bulgarien damals herrschende traditionelle Autoritätsidee implizit auf den Nationalstaat und seine Institutionen und Symbolen übertragen. Diese Idee entsprang den gleichen traditionellen Strukturen, die sie auch für lange Zeit auf eine natürliche Weise unterstützten. Diese waren:

erstens, die christlichorthodoxe Religion und ihre institutionelle Verkörperung - die Kirche, die eigentlich jahrhundertslang nicht nur geistigtheologische, sondern auch sozialorganisierende und identitätsbewahrende Rolle spielten. Die Religion und Kirche waren gleichzeitig selbst gewählte Autoritäten und praktische Wegweiser des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Um 1940 bekannten sich zur christlichorthodoxen Religion faktisch 85 % der Bevölkerung, größerer Teil von denen ein sehr aktives kirchliches Leben führte. Der Nationalstaat sollte die gleiche Autorität wie die Religion und Kirche haben, als auch das Leben der Kirchgemeinde nachahmen und die religiösen Tugenden repräsentieren und unterstützen.

Die zweite Quelle und Stifter von Autorität waren die lokalen Dörfergemeinden, die mit verschiedener Intensität durch das Land zerstreut waren. Vor dem zweiten Weltkrieg über 80 % der bulgarischen Bevölkerung lebten auf dem Land. In diesen Dörfern waren die staatlichen Verwaltungsinstitutionen mit der traditionellen und von Generation zu Generation überlieferten Lebensorganisation der kleinen Gemeinden eng verbunden und fast identisch. Die zentralen Staatsfiguren in den Dörfern - Dörfermeister, Priester, Lehrer/in - waren zur gleichen Zeit traditionelle Autoritätsfiguren und in ihnen anerkannten die Mitglieder der Gemeinde sowie die Staatsstrukturen und Staatsautorität, als auch ihre jahrhundertlange Selbstverwaltung und Selbstorganisation.

Die dritte Form der traditionellen Autorität, die auch auf die Staatsidee übertragen wurde, war die Autorität des Verwandtschaftssystems und seine Gewalt- und ethischen Hierarchien. Der Staat spielte gewissermaßen gleiche Rolle wie das Familienoberhaupt. Selbstverständlich hatten der Staat und das Verwandtschaftssystem technisch verschiedene Organisation und Verteilung der Gewaltrechte und Gehorsampflichten. Die Idee der Gewaltrechte und Gehorsampflichten innerhalb des Staates stammte offensichtlich daraus und wurde im Verlauf der Zeit damit assoziiert, dass die Bevölkerung hinsichtlich der Gewalt- und ethischen Hierarchien sehr patriarchalisch gesinnt war. Nicht zufällig ist, dass die staatliche Institution, welche die größte Anerkennung und sogar Verehrung um sich zwischen 1880 und 1940 konzentrierte, war die Armee.

Die Religion, die Dörfergemeinden und das Verwandtschaftshierarchien waren derjenige soziale und ethische Hintergrund, wovor die Auffassung der Nationalstaatsidee sich bis zu den 40 Jahren des 20 Jahrhundertes in den breiten Schichten der bulgarischen Gesellschaft abspielte.

Diese Betrachtungen bewiesen, dass während der zweiten Phase der Nationalstaatsideeentwicklung in Bulgarien der Staat sich sowie in seiner empirischsozialen Basis als auch in der imaginativen von der Bevölkerung geleisteten Auffassung seiner Struktur- und ethischen Eigenschaften auf selbstregulative Zusammenlebenmechanismen, Mechanismen wie diese der Belohnung und Strafe, der strengen Gesetzen, der moralischen Überlieferungen, allgemein gesagt, auf die Tradition gründete.

Nach 1944 war diese Nationalstaatsidee als eine der Bourgeoisie dienende Täuschung abgewiesen und wurde allmählich innerhalb von zwei Dekaden zunichte gemacht. Ich könnte hier kleiner Zeit wegen nicht alle wichtigen Momente der neuen, nach 1944 entstandenen, Idee einer Volksrepublik in Bulgarien erklären. Ich darf jedoch drei meiner Ansicht nach wichtigste Momente nicht übersehen.

Erstens, die kommunistischen Ideologen wechselten die Idee des bulgarischen Volks mit der ideologischen Konstruktion eines bulgarischen Proletariats.

Wenn wir die entscheidende Differenz zwischen dem Nationalstaat Bulgarien und der so genanten Volksrepublik, d. h. proletarischen, Republik Bulgarien anführen müssen, müssen wir die Tatsache vermerken, dass die Nation in Bulgarien von der Wiedergeburt an als kulturell - politische, alle Bulgaren in allen Zeiträumen umfassende Ganzheit begriffen wurde, während das Proletariat, das jetzt arrogant das Wort „Volk“ nur für sich monopolisiert, eigentlich rein klassenpolitischen, ökonomischpolitischen Abschnitt der Gesellschaft darstellte, der aber, so die kommunistischen Ideologen, die Menschheit und das soziale Wesen des Menschen zu repräsentieren verdiene. Der Nationalstaat gründet sich auf die Voraussetzung, dass nur die Nation als Ganzheit das Recht hat, den Staat als eine strukturellpolitische Ganzheit für sich selbst zu verwalten. Das heißt in anderen Wörtern, dass nur die Volknation und nur in ihrer Totalität das Recht hat, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Es war ganz anders in der proletarischen Staatsideologie der Volksrepublik. Ein rein ökonomisch identifizierbarer Abschnitt der Bevölkerung und sogar nicht er, sondern seine gewaltpolitische Avantgarde, die kommunistische Partei, beschlagnahmte das Recht, über die Ganzheit des Staates und der Gesellschaft zu herrschen. Wir müssen von jetzt an nicht von der Totalität der Volknation, sondern nur von der Totalität der volksproletarischen, d. h. kommunistischparteiischen Diktatur sprechen. Allen Propagandaansprüchen der Kommunisten gegenüber, dass nur die Volksrepublik den richtigen Volksstaat, d. h. den dem ganze Volk gehörigen, den Willen des ganzen Volks repräsentierenden Staat verkörpert, führt der Diktaturstaat Bulgarien zur Vernichtung des Nationalstaats sowie im geistesgeschichtlichen Sinne, als auch im Sinne der bulgarischen Kulturgeschichte zwischen 1820-1944. Nur der Wechsel von der Idee einer unabhängigen, ihr Leben und ihren Staat selbst verwaltenden Volknation zur kommunistischparteiischen Diktatur einer Minderheit über die Totalität der Gesellschaft ist ein ausreichender Beweis dafür, dass der kommunistischen Staat die Keimzelle der Nationalstaat angreift und vernichtet. Auf einer Propagandaebene könnte man sich irreführen, dass die Volksrepublik Bulgarien sich auf den Willen der ganzen Volknation gründete. Das war aber tatsächlich ein gegennationaler Staat. Es gibt eine andere Perspektive zu diesem Problem, die darauf hinweist, dass die Kommunisten nichts mit dem Nationalstaat zu tun haben möchten. Der Nationalstaat stütze sich stark auf die Totalität und Autorität einer Lebenstradition. Die Idee der Nation ist eng mit der Voraussetzung verbunden, dass die Nation sich über ein umfangreiches, reales und imaginäres, zeitliches und räumliches, geschichtliches und sittliches Kontinuum ausdehnt. Die Kommunisten weisen die Idee eines solchen Kontinuums ekelhaft ab. Die kommunistische Gewaltübernahme taucht in der Geschichte Bulgariens als eine revolutionäre Zäsur auf, die einen ganz neuen Anfang kennzeichnen muss. Alles, was der Zeit vor der Zäsur gehört, einschließlich des Nationalstaats, soll abgeschafft werden.

Zweitens, das bedeutet, dass die Staatsidee in Bulgarien nach 1944 tatsächlich nicht mehr der bulgarischen Volknation und ihren Lebensstrukturen und Vorstellungen entspringt. Die Staatsidee ist nicht mehr eine der Volknation entnommene und der Volknation dienende Idee. Die Staatsidee nach 1944 war eine künstliche der marxistischen - leninschen Staatsdoktrin und der sowjetischen Staatspraxis entnommene und gewaltig auferlegte Idee. Sie diente nicht den realen Menschen jetzt und hier, nicht der realen Nationalgemeinschaft, sondern der utopischen Vision einer kommunistischen Zukunftsgesellschaft, worin der Staat nicht mehr existieren sollte. Der so genannte sozialistische Internationalismus, der herrschende politische Praxis war, und die Idee, dass der allerletzte Existenzgrund des Staats nicht in heutigen menschlichen Gesellschaft, sondern in der Transzendenz einer staatlosen Zukunft liegt, zusammen mit der Staatsideologie der kommunistischparteiischen Diktatur führten zur tatsächlichen und endgültigen Abschaffung des Nationalstaats.

Ich behauptete früher im diesen Vortrag, dass die klassische bulgarische Nationalstaatsidee sich auf drei grundsätzliche, lebensweltliche, sittliche und politischstrukturelle Momente - Religion, lokale Gemeinschaften und Verwandtschaftssystem - stützten. Als ihre erste und dringlichste Aufgabe legten sich die Kommunisten darauf, diese Basis des Nationalstaats in kurzer Zeit zu vernichten. Ich kann nicht in die Tiefe der Frage eingehen, wie diese Vernichtung geschah. Nur ein Beispiel, unter den Leuten, die in großer Menge kurz nach 1944 von dem so genanten Volksgericht verurteilt und exekutiert waren, hoben sich die Figuren des Priesters, der Dörfermeisters und der Familienoberhauptes der großen und reichen Familien (Kulazi) hervor. Der Angriff auf diese Stifter der klassischen bulgarischen Nationalstaatsidee nicht zufällig war. Um ihn durchführen zu können, nahmen die Kommunisten drei Hauptmechanismen - totalitäres Kommandosystem der ständigen Überwachung, ständiges Haushalt- und Wirtschaftsdefizit und am Ende die wahnsinnige und gewalttätige Industrialisierung in Anspruch. Wenn jemand ständig überwacht wird, ob er sich zum einen andern Glauben als zur kommunistischen Doktrin bekennt, verschwindet jede Chancen für religiöses sittliches und praktisches Zusammenleben. Wenn jemand dem absichtlich verursachten Haushalt- und Wirtschaftsdefizit und der schnellen Industrialisierung wegen sich selbst und seine Familie nicht mehr ernähern könnte, soll er die lokale Gemeinschaft dringlich verlassen, um irgendwo anders Lebenschancen zu suchen. Unter diesen Umständen gehen die traditionellen lokalen Gemeinschaften- und Verwandtschaftssysteme völlig auseinander. Das beabsichtigte Ergebnis der Abschaffung der Nationalstaatsbasis war die totale Vereinzelung des Menschen, der nicht mehr einer nationalen Gemeinschaft gehört, sondern ein abwehrloser Opfer der kommunistischparteiischen Willkür ist.

Auf diese Weise sind wir eigentlich zur endgültigen Phase der Vernichtung des Nationalstaats in Bulgarien gekommen. Meine These ist, dass es nach 1950 in Bulgarien keinen Nationalstaat mehr gibt, weil die Volknation destruiert wurde. Jeder von oben und außen auferlegter Totalitarismus ist eine radikale Antithese der sich selbst verwaltenden Nation. Ich möchte zusammenfassen, dass meiner Meinung nach zwei Hauptmechanismen der Abschaffung der Nation in Bulgarien betrieben wurden. Erstens, die wirkliche Volknation bis 1944 war vom einen künstlich erfundenen proletarischen Volk gewechselt. Es ist, glaube ich, gut von bisher Gesagten bekannt, dass der sittliche und lebenspraktische Grundbestandteil der bulgarischen Nation die religiöse, lokalwirtschaftliche und verwandtschaftliche Gemeinschaft ist. Das proletarische Volk jedoch besteht nicht aus stabilen und jahreslang zusammenlebenden Gemeinschaften, sondern aus vereinzelten Menschen. Bei dem Nationalstaats bedürft der Staat einer Volknation, bei dem totalitären Staat demgegenüber, da der Staat nur eine Masse von vereinzelten Menschen umfasst, bedürft das Volk einer Staat, der es organisieren sollte.

Zweitens, da der totalitäre Staat seinem Wesen nach nur aufgrund der Vereinzlung des Menschen existieren könnte, vernichtet er die sittliche und lebenspraktische Strukturen der Nationalstaat.

Die Folgerung, die ich hier ziehen möchte, lautet, dass der totalitäre Staat als eine künstliche und hoch mechanisierte Struktur funktioniert, welche die vereinzelten Menschen nicht zum Zweck deren gemeinsamen Wohl, sondern zwecks ihrer eigenen Selbstregenerierung in einem totalen „Netzwerk“ zusammensteckt. Auf diese Weise errichtet sich eine Grenzwand im totalitären Staat, die zwei Haupttypen von Menschen ausdifferenziert. Auf der einen ihrer Seiten stehen diejenigen Menschen, die sich in dem staatlichen Gewaltnetzwerk fügen. Sie sind das echte proletarische Volk. Auf der anderen Seite stehen diejenigen politischen Oppositionsären, Seelekranken, usw., die am staatlichen „Netzwerk“ nicht freiwillig teilnehmen wollen und deswegen diszipliniert werden sollen. Die Bevölkerung im bulgarischen kommunistischen Staat hatte keine nationale Prägung. Sie wurde in zwei Typen aufgeteilt - die im Netzwerk des Staates zusammengesteckten Menschen, das so genante Volk, und die inneren Feinde des Staates. Diese zwei Gruppen würde ich lieber das Volk des Staates und die Feinde des Staates nennen. Das Volk könnte nur soweit existieren, als die meisten der Menschen gewalttätig am Staatsnetzwerk abgebunden sind. Derjenige oder diejenige, der/die der Staatsnetzwerkkontrolle entgleitet, wird sofort zum Feind und soll ausgerottet werden. Ich möchte ganz knapp darauf hinweisen, dass da, was ich hier kommunistischer Netzwerkstaat nennen, würde aus vier sich durchschneidenden Netzwerken bestehet.

Erstens, das parteiadministrative Netzwerk, das die Staat-, Regionen-, Stadt- und Dörferadministration umfängt und verwaltet.

Zweitens, das Netzwerk der totalen Überwachung, Zurückhaltung und Zwang. Hier sind die Strukturen der Polizei, der Armee, und insbesondere der Geheimdienste zu erwähnen.

Drittens, das Netzwerk der durchgängig staatlichen Kommandowirtschaft, welche das obenerwähnte ständige Haushalt- und Güterdefizit verursachte.

Viertens, das Netzwerk der totalen politischen Indoktrination. Hier sind die zahlreichen, rein politischen Organisationen der kommunistischen Partei, das Ausbildungssystem, die Medien, die Massenkultur und die Künste u. a. zu erwähnen.

Ich nenne den totalitären Staat „Netzwerkstaat“ aus zwei Gründen.

Erstens, alle Mitglieder der Gesellschaft sind im Rahmen des Netzwerkstaats zu einer allumfassenden Gesamtheit der vier angeführten Netzwerke verflochten. Denn die letzten die Totalität des staatlichgesellschaftlichen Raums durchkreuzen, gibt es für den einzelnen Menschen keine Möglichkeit, ein autonomes Leben außen ihnen zu führen. Gleichzeitig könnten die Menschen sich nicht frei innerhalb der Netze bewegen. Sie sind ständig bezwungen, um Erlaubnisse zu bitten, wenn sie in den Netzen etwas machen, z. B. ihre Arbeit wechseln oder sogar einen Elektroherd kaufen, möchten. Der einzelne Mensch findet sich immer schon in den Netzwerken am bestimmten Ort angebunden. Das wichtigste ist aber, dass diese vier Netze nicht unabhängig voneinander sind, sonder ein riesiges gesamtes Netzwerk des Staates ausmachen. Die unweigerliche Gebundenheit an den Netzwerke und die Abwesenheit irgendwelchen freien staatlichgesellschaftlichen Raums jenseits von ihnen bestimmt das Wesen des totalitären Staats.

Zweitens, nur die riesige Struktur der Netzwerke ermöglicht die Wirksamkeit der totalitären Gewalt, ohne die wir uns den totalitären Staat nicht vorstellen könnten. Nur die Netzwerken können die Durchdringung der kommunistischen Gewalt zum jeden Punkt der Wirklichkeit und das Erreichen eines hohen Maß an Wirksamkeit dieser Gewalt sichern. Aufgrund der Netzwerke gibt es mehr keinen unbedeckten, kontrollefreien Raum, welches die Gewalt nicht erreichen könnte. Um die Wirksamkeit dieser Netze verstehen zu können, muss ich hier zufügen, dass sie in höchstem Grade die Max Webersche Idee der Bürokratie verwirklichen. Ich beziehe mich nur auf drei von den Merkmalen der Bürokratie, die meiner Meinung nach für die totalitären Netze bestimmend sind.

Erstens, strenge Gewalt- und Verwaltungshierarchien, die den kommunistischen Hauptfunktionären erlauben, genau zu kontrollieren, wie die Angestelltenschaf den Befehlen folgt.

Zweitens, hochformales und festes Regelsystem, das die Gleichartigkeit der Verwaltungstätigkeiten und die schnellste Anwendbarkeit der allgemeinen Regelungen zu den einzelnen Fällen verbürgt.

Drittens, Anonymität der Netzwerktätigkeit und emotional neutrales Verhalten der Mitglieder des Netzes. Jeder Angestellte verfährt nicht als Individuum, sonder nur als Vertreter der Staatsgewalt.

Strenge Gewalthierarchien, festes Gewaltregelsystem und anonyme Gewaltvertretung garantieren die Wirksamkeit der Gruppe, die den Netzwerkstaat kontrolliert.

Jetzt möchte ich mich eine kurze Stellungnahme über den zeitgenössischen bulgarischen Staat abgeben. Meiner Ansicht nach ist der bulgarische Staat nach 1989 ein direkter, nicht nur tatsächlicher, sonder struktureller Nachfolger des totalitären Netzwerkstaats. Ich behalte deswegen den Namen „Netzwerkstaat“ auch für diesen Strukturnachkommen. Nach 1989 wurde die Herrschaft einiger neuartiger Netzwerke, die eine Umwandlung der alten kommunistischen Netzwerke in Rahmen neuerer geopolitischer Umständen sind, über den Staat fortgesetzt. Die neuen Netzwerke entspringen tatsächlich sowie persönlich, als auch organisatorisch den kommunistischen Netzwerken. Aus den vier alten Netzwerken sind zwei neuen Netzwerkestypen entstanden.

Erstens, ein legaler politischwirtschaftlicher Netzwerktypus .

Zweitens, ein kriminaler politischwirtschaftlicher Netzwerktypus.

Bei dem Übergang von Totalitarismus zur Demokratie wurden aus dem totalitären Staatsnetzwerk und seinen vier Schichten diesen zwei neuen Netzwerken auf folgende Weise abgesondert.

Einige der Hauptfiguren der alten Netzwerke schlossen sich an die neuen politischen Parteien an und formten auf diese Weise neue politische Netzwerke.

Eine andere Gruppe der alten Netzwerke aufgrund der finanziellen Quellen der gleichen Netzwerke richtete neue Wirtschafts- und Unternehmensstrukturen, d. h. neue Netzwerke, ein.

Eine dritte Gruppe der alten Netzwerken, normalerweise diejenige, die niedrigere Stufen der Überwachungsstrukturen des Totalitarismus ansiedelten, formte mächtige Großkriminalitätsnetzwerke.

Von Anfang an waren jedoch diese drei Netzwerkschichten sehr präzis miteinander verflochten und koordiniert. Aus den politischen und Unternehmensstrukturen entstand das, was ich hier legale politischwirtschaftliche Netzwerke nenne. Aus den politischen und Großkriminalitätsstrukturen entstand das, was ich kriminale politischwirtschaftliche Netzwerke nenne. Es ist leicht einzusehen, dass aus dem allumfassenden totalitären Staatsnetzwerk viele, nicht aber zahlreiche, demokratische Netzwerke der beiden Typen absonderten. Jedes Netzwerk hat seine eigenen Interessen und ist in Konkurrenz mit den anderen Netzwerken.

Diese neuen Netzwerke haben eine einzigartige Struktur. Erstens, ihre Figuren stehen im Vordergrund, die Gesellschaft kennt einzelne politische Figuren, einzelne Unternehmer, einzelne Großkriminalitätsoberhaupte. Die Beziehungen zwischen diesen verschiedenartigen Figuren, d.h. das Funktionieren der Netzwerke selber sind jedoch hintergründlich. Mann kann nicht ohne Mühe und nicht ohne Angst die Mechanismen des Netzwerkesfunktionierens im Vordergrund erkennen.

Was die Einrichtung dieser Netzwerke anbelangt, muss man sagen, dass sie eine Umkippung des Weberschen und totalitären Musters der Bürokratie vorstellt.

Erstens, die totalitären Netzwerke sind riesige, gleich bleibende Staatsstrukturen. Die demokratischen Netzwerke sind kleine, flexible, anpassungsfähige, wandelbare, zeitlich und räumlich begrenzte Strukturen.

Zweitens, die totalitären Staatnetzwerke sind vom strengen Gewalt- und Verwaltungshierarchien und ständiger Kontrolle durchdrungen. Sie werden durch Befehle und Gehorsam gesteuert. Die neuen demokratischen Netzwerke mit Ausnahme ihrer Großkriminalitätsschichten haben keine strengen Hierarchien, sie werden nicht durch Befehle, sonder durch die ständige Anpassung der Interessen gelenkt.

Drittens, die alten Netzwerke vertreten hochformales und festes Regelsystem und Gleichartigkeit der Verwaltungstätigkeiten. Die neuen haben keine festen Regelsystem und Verwaltungstätigkeiten, sie funktionieren flexible und kontext- und zweckmäßig.

Viertens, die alten Staatsnetzwerke waren durch Anonymität der Netzwerktätigkeit und emotional neutrales Verhalten der Mitglieder des Netzes gekennzeichnet. Die neuen sind überhaupt nicht anonym. Die Leute in ihnen kennen sich sehr gut persönlich. Jeder im Netzwerk handelt um seiner Interesses willen und danach sieht sich für die Interesse der Gruppe um.

Am Ende dieser Ausführungen über den demokratischen Netzwerkstaat muss ich klarmachen, auf welche Weise die neuen Netzwerke den demokratischen bulgarischen Staat eroberten. Um das zu leisten, beziehe ich mich hier auf den Strukturfunktionalismus von T. Parsons. Er schreibt, dass die Gewalt den gleichen Platz in den politischen Systemen nehme, wie in einigen Hinsichten das Geld in den Wirtschaftssystemen habe. Das bedeutet, dass der so genante liberale Staat einen Isomorphismus zwischen der Gewalt und dem Geld schaffe und gute Umstände lieferte, wo die politische Gewalt und das Geld sich verbünden können. Das ist einsichtig im Falle des postkommunistischen Bulgarien.

Die politischen Schichten der neuen Netzwerke haben Vertreter in gesetztgebende und ausführende Gewalt des Staates. Diese Schichten machen alles Notwendiges durch die Gesetzgebung und die exekutive Entscheidungen ihren Kommilitonen legalen Vorrang zu geben, aufgrund dessen die letzten sich auf große und schnelle Gewinne verlassen könnten. Danach die Wirtschaftsschicht des Netzwerks teilt den Gewinn mit ihren politischen Kommilitonen. So sieht die Lage bei den legalen politischwirtschaftlichen Netzwerken aus.

Die Analyse der kriminalen politischwirtschaftlichen Netzwerke bedarf eines kleinen Wechsels der Perspektive. Bei ihr geht es nicht um die Vorgänge innerhalb der gesetztgebenden und ausführenden, sondern innerhalb der ausführenden und gerichtlichen Gewalt. Die politischen Schichten der kriminalen politischwirtschaftlichen Netzwerke durch ihrer Vertreter in diesen Gewalten einen schützenden Schirm über die kriminalen Schichten des Netzes aufspannen, so dass die letzten unberuhigt ihre Gewinne aus den kriminalwirtschaftlichen Tätigkeiten ziehen. Danach teilen sie diese Gewinne mit ihren politischen Schützer.

Wie ich es schon in meiner These aufstellte, nachdem der totalitäre Netzwerkstaat in seiner Zeit die Nationalstaatsidee zunichte brachte, seine Nachfolger, der demokratische Netzwerkstaat ihrer Wiederbelebung nicht die Spur einer Chance gab. Heutzutage spricht niemand von Nation oder Nationalstaat. Es gibt keine Nation mehr, nur eine Menge Wähler. Es dürfe keinen Nationalstaat mehr bestehen, nur den Staat der Netzwerke.

Aufgrund des Obengesagten glaube ich, es wäre nicht überraschend, wenn ich mich an die Meinung derjenigen anschließe, die ausreichende Gründe haben, zu behaupten, dass der Nationalstaat keine Zukunft mehr haben könnte. In Falle Bulgariens verlor der Nationalstaat seine Chance schon in der kommunistischen Zeit.

 

 

© Blagovest Zlatanov
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© E-magazine LiterNet, 17.05.2007, № 5 (90)

Dieser Text wurde als Vortrag auf der von Goethe-Institut-Bucharrest veranstalteten internationalen Konferenz “Zur Zukunft des Nationalstaats und Demokratie”, Bucharrest, Rumänien, 21-22.02.2005 gehalten.