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GELD SCHÄRFT DEN VERSTAND

Stojan Gjaurov

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Nicolás Gómez Dávila, dieser seltsame Einsiedler in der Nische des Denkens, tritt langsam aus dem Halbschatten seines untergründigen Ruhmes heraus. Die sich immer weiter ausbreitenden Kreise seiner Rezeption spülen übrigens auch den Vorteil der unkritischen Schwärmerei fort, die so oft einen literarischen Geheimtipp begleitet. Man sieht deutlicher nicht nur die Geistesblitze des kolumbianischen Autors; man wird sich auch der Präsenz eines Mannes bewusst, der nicht ganz von dieser Welt war und dessen Fremdheit extravagant bis abstoßend wirkt.

„Notas", Aufzeichnungen, ist bereits das fünfte Buch Gómez Dávilas, das auf Deutsch erscheint: ein sorgfältig redigierter Band mit Register, einem analytischen Nachwort des Philosophen Franco Volpi und einem schönen Essay des Schriftstellers Martin Mosebach, des ergebensten Jüngers Gómez Dávilas im deutschsprachigen Raum. Dabei handelt es sich eigentlich um die erste Sammlung von Notizen, Maximen und Aphorismen („Notas", Tomo I), die Gómez Dávila auf eigenen Kosten und in einer sehr kleinen Auflage 1954 in Mexiko drucken ließ und die nur für seine Freunde bestimmt war; diese frühe Arbeit bildet den Kern seines Hauptwerks „Escolios a un texto implícito" (Randbemerkungen zu einem impliziten Text), das in den Siebzigern erschienen ist.

Gómez Dávila ist kein Philosoph im üblichen Sinn des Wortes - soweit das allgemeine Verständnis von Philosophie heute von der Vorstellung für Systematik und Akademismus geprägt ist. Er ist Philosoph nur in dem Sinne, den man diesem Begriff in der Antike beimaß, als Philosophie eine Art und Weise des Lebens war. In seinem Fall ist das die Lebensart eines reichen Lateinamerikaners, der sich den unzeitgemäßen Luxus leisten konnte, sich in seiner fabelhaften Bibliothek einzuschließen, um sein ganzes Leben Leben, im Nachdenken und Schreiben zu verbringen. Aus der Stille seiner Klausur und von der Warte seines immensen Wissens beobachtete und kommentierte er das Tun des Menschen, umherirrend in der modernen Welt - mit all den unvermeidlichen Mängeln, die sich aus einer derartigen Stellung ergeben.

Tatsächlich sind Gómez Dávilas notas, textos oder escolios, die er bis zum Ende seines Lebens 1994 führt, das Tagebuch des Denkens eines genialen Dilettanten; wobei die Faustregel gilt: je kleiner das Format, desto treffsicherer ist dieser Meister der äußersten Verdichtung. Man sieht ihn zögern, sich begeistern oder lästern, dann stolpern und tagelang nichts tun; man merkt, dass er sich (und andere) wiederholt und gern posiert, dass er banal oder belehrend sein kann (eine Falle, in die Verfasser von Maximen nur allzu leicht hineintappen); man verspürt einen anschwellenden Unwillen, ihm zu folgen, wenn er, meistens theoretisierend, sich in den verquasten Ausführungen vieler seiner größeren Fragmente verliert - oder den harten Kern seiner aggressiv artikulierten reaktionären Grundhaltung hervorhebt.

Gómez Dávila ist aber unerreichbar in jenen kurzen, aus einem, höchstens zwei Sätzen bestehenden, brillantartig klaren wie schneidenden Aphorismen - und die stellen den Hauptteil seines Schaffens dar -, die von einer einzigartigen Hellsichtigkeit erleuchtet und vom überschäumenden Furor eines Señor der Welt und des Geistes gefärbt sind; eines, der mit perversem Gusto über die Vulgaritäten der gottlosen Welt, die naive Hoffnung in Fortschritt und Technik, über die Politik und die Ideologien und vor allem über die Dummheit seiner Zeitgenossen herzieht: „Der Dummkopf macht mich dumm."

In „Notas" sind die Linien des Ideenhorizonts des kolumbianischen Denkers schon deutlich durchzogen. Es gibt allerdings Gedankenstränge und Themen, die in seinen späteren Arbeiten zurücktreten oder eben wegfallen. Übermäßig erscheint zum Beispiel die Aufmerksamkeit, die der Erotik und der Sexualität in den „Notas" zuteil wird; aber nur, bis es sich zeigt, dass Gómez Dávila sie als Korrektiv der Gefahr vom Verknöchern der Vernunft im Abstrakten betrachtet. Fleisch hält das Feuer des Intellekts am Leben - kein Wunder bei einem, für den Leben und Philosophie ineinander fließen. Gómez Dávilas viel versprechender Hinweis auf eine „Kritik der erotischen Vernunft" wird aber unerfüllt bleiben.

„Sinnlich, skeptisch und religiös, das wäre vielleicht keine schlechte Definition dessen, was ich bin" - doch genügt diese Selbstbeschreibung nicht. Der biografische Kontext, der kulturelle Hintergrund, Kolumbien und die Kolumbianer, die er bespuckt, wann er nur kann, ein exzentrischer Millionär in seiner Eremitage inmitten des Gewimmels von Bogotá: Es gibt etwas Befremdliches, gar Unwirkliches, etwas, was sich in der Figur Gómez Dávilas uns entzieht und uns ihn leichter als Protagonisten jener hundertjährigen Einsamkeit, von seinem Landsmann Gabriel García Márquez beschrieben, denn als einen realen Menschen vorstellen lässt. „Realismo mágico" als Kunst des Lebens?

 


Nicolás Gómez Dávila: Notas. Unzeitgemäße Gedanken. Berlin: Matthes u. Seitz Verlag, 2005.

 

 

© Stojan Gjaurov
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© E-magazine LiterNet, 03.04.2007, № 4 (89)

Publication:
Rheinischer Merkur, Nr. 22, 01.06.2006.